Freitagabend, 15. Stockwerk eines Hochhauses, und plötzlich wird ein entspanntes Date zum Attachment-Trigger. Hengameh Yaghoobifarah entfaltet in Schwindel ein literarisches Meisterwerk, das perspektivisch weit über den Horizont der Mainstream-Verkaufsschlager hinausgeht – und deshalb mindestens genauso viel Beachtung verdient.

Die grobe Outline: Ava und Robin haben ein Date, das ziemlich flawless verläuft – bis plötzlich die Tür klingelt und delia sowie kurz darauf Silvia auf der Matte stehen. delia hat ihr Handy in Avas Schlafzimmer vergessen, während Silvia seit einer Weile auf Antworten von Ava wartet, die sie geghostet hat. Klassiker. Was folgt, ist eine chaotische Flucht auf das Dach des Hochhauses, ein Ort, der nicht nur den Raum für Konflikte schafft, sondern auch für tiefe, emotionale Enthüllungen (und ein bisschen Hunger auf Chicken-Sandwiches).

Was Schwindel so besonders macht, ist die brillante Art, wie es queeres Begehren und Beziehungen ohne cis-männliche Figuren darstellt und analysiert. Nicht, dass ich von Yaghoobifarah etwas anderes erwartet hätte, aber das sei an dieser Stelle auch von mir als queerer Hete nochmal positiv erwähnt. Die Lesenden tauchen der Reihe nach in die Welt der vier Protagonist_innen ein, deren Erzähl-Perspektiven sich deutlich voneinander abheben. Silvia befreit sich aus einer gewalttätigen Cis-Hetero-Beziehung, Robin zerdenkt die ethische Dimension ihrer offenen Beziehung und delia kämpft mit Body-Dysmorphia, Drogenkonsum und dissoziativen Schüben.

»Füreinander gestorben ist man manchmal nicht erst mit dem Tod. Doch vielleicht muss man dafür zumindest mal füreinander gelebt haben. Weder Silvia noch ihr Umfeld konnten das von sich behaupten. So dramatisch, wie es klang, war es für Silvia letztendlich nicht.« HY

Besonders „auffällig“ ist delias Perspektive, die konsequent in Kleinbuchstaben gehalten ist und mit dey/demm statt den traditionellen Pronomen arbeitet – eine stilistische Entscheidung, die für mich zwar neu, aber dennoch passend wirkt.

»dey rechnete damit, dass jeden moment der sog einsetzte. dieses zappen durch die gedanken, durch die orte, durch szenen, dem dey sich nicht entziehen konnte. doch delia blieb hier die berührungen fühlten sich einfach so gut an, dass deren kopf einen besseren deal witterte, wenn dey präsent blieb, statt sich wegzubeamen.« HY

Ein weiteres Plus von Schwindel ist die unaufgeregte Darstellung von Age-Gap-Affären und Non-Monogamie. Diese Themen werden nicht als „schräge Experimente“ gesehen, sondern als selbstverständlicher Teil der (queeren) Realität. Gut gefallen hat mir, dass keine der Protagonist_innen auf einen moralisch erhöhten Podest gestellt wurde – jede_r hat eigene Herausforderungen zu bewältigen, die Yaghoobifarah gekonnt als roten Faden der Geschichte zusammenwebt.

Der Schreibstil von Yaghoobifarah balanciert dabei angenehm zwischen literarischer Tiefe und zeitgeistiger Zugänglichkeit. Skippen ist nicht, bei Yaghoobifarah ballert jede Seite. Die Mischung aus Gefühlsdrama, unerwiderter Liebe und intensivem Sex wirkt nie aufgesetzt oder unangemessen, sondern fügt sich organisch in die Erzählung ein. Auch die expliziteren Szenen lesen sich cringelos, womit Yaghoobifarah bei mir weitere Punkte sammelt.

»ava nahm ihre hand nicht weg. sie blieb dort, bewegte sich langsam, aber mit sorgfalt. »dein schwanz fühlt sich richtig gut an in meiner hand«, flüsterte sie delia ins ohr und plötzlich wusste dey, dass auch sex ein ort der gender euphoria sein konnte.« HY

Fazit? Schwindel ist eine faszinierende und definitiv binge-worthy Lektüre, die queere Erfahrungen in ihrer gelebten Komplexität wie kein anderes Buch auf dem deutschsprachigen Markt einfängt. Bitte mehr!

 

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