Gestern habe ich in Lea Joy Friedels Buch „Too Much“ (Leykam) zum ersten Mal vom Begriff der Matreszenz gelesen. Einem wenig erforschten Prozess ähnlich der Pubertät, den Schwangere durchlaufen, um sich langsam an ihr neues Leben zu gewöhnen. Während dieser Phase erleben Personen mit Uterus Veränderungen in ihrer Identität, ihrem Körper, ihren zwischenmenschlichen Beziehungen – und letztendlich auch in ihrer Weltanschauung.

Ich frage mich, ob es so etwas auch fürs Romanschreiben gibt. 4 Monate sind es noch bis zur Abgabe, und ich habe diesen Samstag die 27.500 Wörter-Grenze erreicht. Das sind 90 bis 110 Buchseiten, und somit fast die Hälfte des Manuskripts, das ich abgeben werde.

Der Roman fügt sich gerade wie ein Puzzle mit hohem Schwierigkeitsgrad langsam zusammen. Die Einzelteile lagen alle von Anfang vor mir auf dem Tisch ausgebreitet, aber erst jetzt steht er – der äußere Rahmen inklusive ein paar größerer Flächen mit derselben Farbe.

Nach den 27.500 Wörtern habe ich sowohl die halbe Backstory der Protagonistin, als auch einen ganzen Handlungsstrang inklusive Ende fertig. Das ist extrem befriedigend, weil ich somit ein Kapitel in meinem Kopf schließen kann, und mich jetzt „nur noch“ auf den Ausgang vom nächsten Strang konzentrieren muss.

Während der Matreszenz fangen Frauen an, sich als Mutter zu spüren.
In meiner Auctoreszenz – abgeleitet vom lateinischen Wort für Autor „auctor“ – fange ich an, mich stärker denn je als Künstlerin zu identifizieren. 2024 war sicherlich das Jahr, in dem ich zum ersten Mal auf die Frage „Was machst du eigentlich beruflich?“ ohne zu zögern Künstlerin antworten konnte.

Was sollte ich auch sonst antworten?

Ich verbringe meinen ganzen Tag damit, über Handlungsstränge meiner fiktiven Charaktere nachzudenken und interessante Gegenwartsliteratur zu produzieren. Ich bin Vollzeit-Autorin, ich habe keinen Side-Hustle mehr, bei dem ich ekelhafte Werbetexte für Achselhaarrasuren vorproduzieren und meine Gedanken für Geld an andere verleihen muss.

Ich bin Künstlerin geworden.

Nicht erst durch diesen Roman, aber auch mit ihm. Mein Körper gehört nicht mir, während ich schreibe. Es gibt kaum Aktivitäten, bei denen ich weniger aktiv lebe, als beim Schreiben. Schreiben ist das Gegenteil von leben, sogar. Meine zwischenmenschlichen Beziehungen müssen warten, bis ich davon befreit bin, weil ich etwas erschaffe, das so viel größer ist, als ich selbst.

Ich muss meine verbleibende Schreibzeit ständig kontrollieren, regulieren, einteilen. Ressourcen schonend einsetzen und Energien sparen. Nicht zu viel U-Bahn fahren, nicht zu viel Menschen treffen, nicht zu lange außer Haus bleiben, um den Roman bestmöglich mit meinen Gehirnzellen, meinen Alpträumen, meinen Fantasien, meiner Vergangenheit und meinen Erinnerungen zu füttern wie ein Alien.

Wie bei der Mutterschaft fangen Menschen an, sich von mir abzuwenden, ohne konkrete Gründe dafür zu nennen. Autorinnenschaft wird, wie eine Schwanger- und später Mutterschaft, stets von außen bewertet, meine Performance einer „sympathischen“ Schriftstellerin für alle Welt einsehbar öffentlich auf diversen Plattformen kommentiert. Ich werde zu einer anderen, das merke ich an der Wahrnehmung meiner Person. Wie ich angesprochen, angeschrieben und behandelt werde. Da ist plötzlich diese Distanz. Als ob ich jemand wäre.

Freunde meiner Eltern folgen mir heimlich auf Instagram und beschweren sich hinterher über meine zur Schau gestellten Privilegien. Immer wissen sie es besser. Sie verachten mich für das Leben, das ich führe; für das Leben, das nicht einfach so zu mir kam. Stabile Freundschaften bleiben von der Missgunst unberührt, zum Glück.

Die verschiedenen Phasen der Auctoreszenz müssen verarbeitet werden, all das geht nicht von heute auf morgen. Ich kann mir das Wirken meines endgültigen Schaffens nicht in seiner Gänze vorstellen, auch, weil ich nur bedingt Einfluss darauf habe. Aber den Einfluss, den ich habe, möchte ich voll und ganz nutzen. Jede verdammte Sekunde.

We write to taste life twice und ich kann die Tränen nicht mehr schmecken, die ich über dieser Geschichte vergossen habe, weil sie mir so nahe geht. Die Möglichkeit, manches, was mir widerfahren ist, in ein Buch zu gießen, ist eine unfassbare Genugtuung.

Eine ganz eigene Form der Emanzipation, mit der ich mir meine Furchtlosigkeit zurückerobere.

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