Ich bin 18 Jahre alt, kurz vor dem Abi. Das frühe Erwachsenenleben auf dem Dorf ist erdrückend, wenn nicht die Autotouren mit meiner besten Freundin wären, die mir die Zeit vertreiben. Wir sitzen rauchend in meinem Twingo vor dem Haus meiner Eltern und mir brennt eine Frage auf der Seele. Endlich traue ich mich, es flüsternd auszusprechen: „Nur weil man gerne The L-Word schaut und einem das gefällt, heißt es nicht, dass man lesbisch ist, oder?“

Meine Freundin schüttelt damals den Kopf. Heute weiß ich, dass sie sich heimlich dieselbe Frage stellt. Diese kurze Interaktion ist uns beiden, fünfzehn Jahre später, noch sehr klar in Erinnerung.

Ich habe meine ersten sexuellen Fantasien mit Mädchen ausgelebt. Wir spielten Sex und ich wollte immer die Rolle des Jungen übernehmen. Ich war ansonsten fast ausschließlich mit Jungs befreundet und jahrelang in diese beste Freundin verliebt, ohne es zu realisieren.

Dass ich mich heute als nicht-binär identifiziere lässt mich fragen, inwiefern ich diese Gayness vielleicht früher hätte bemerken und ausleben können, hätte ich nicht das Problem gehabt, dass ich mich nicht als Frau von FLINTA* hatte lieben lassen wollen. Noch naheliegender ist aber, dass die fehlende Repräsentation und das teilweise unausgesprochene Tabu, lesbisch zu sein, mir meine internalisierte Homophobie derart eingeprügelt haben, dass ich bis in meine späten Zwanziger noch mit voller Inbrunst von mir behauptete, ich sei leider, leider wahninnig hetero und Frauen anfassen fände ich für mich abstoßend.

What I regret

Inwiefern habe ich unter meiner Transness oder unter meiner Gayness gelitten, als ich aufwuchs? Seitdem ich beides realisiert und ausgesprochen habe, beginne ich Dinge zu bemerken, die darauf hindeuten, dass ich mich mehr hätte entfalten können. Dass ich glücklicher hätte sein können und – gelinde gesagt – weniger Zeit mit anstrengenden cis-Männern verbracht hätte. Ich hätte mich vielleicht weniger minderwertig gefühlt, weil ich mich nicht meine gesamte Jugend lang gefragt hätte, weshalb ich es nicht schaffe mich verdammt nochmal den weiblich gelesenen Personen um mich herum anzupassen.

Meine Heteronormativität wurde aber weder von mir noch von meinem Umfeld offen hinterfragt. Ich habe daher mein Leben lang cis-hetero Privilegien genossen.

Als mein kleiner Bruder sich 2016 als trans outete, war er der erste queere Mensch in meinem nahen Umfeld. Seine Reise begleite ich seitdem intensiv und ich war als vermeintlich große Schwester noch weniger dazu verleitet, meine eigene Cisgeschlechtlichkeit zu hinterfragen, denn seinen Struggle, seine Depressionen, seinen Schmerz hatte ich sicher nicht. Ich wurde noch straighter als vorher schon, ich hielt die Balance und war ein starkes Geschwisterkind, an das er sich lehnen konnte und um das sich die Eltern nicht sorgen mussten.

How to become queer

Der Prozess, mir meine Queerness einzugestehen war derselbe, wie mich auf ADHS und Depressionen diagnostizieren zu lassen. Zuerst habe ich viel, viel gelesen. Über Jahre hinweg wurde ich ein immer besserer Ally. Ally zu sein war meine Identität.

Next Step: Mein Umfeld queerisieren. Und das ging einher mit Step Nummer drei: Selbstwert gewinnen. Mich von toxischer Männlichkeit zu entfernen war hardcore, denn kaputte Typen zu daten war für mich lange das einzig Realistische – ich war unbewusst der Überzeugung ich hätte es nicht anders verdient. Als ich es schaffte mich davon zu lösen, gelangte ich automatisch in die Kreise von wirklich lieben Menschen, viele von ihnen queer.

Sie waren interessiert an meiner Weirdness und meinen Besonderheiten. Sie gaben mir Raum für ungewöhnliche Fragen, hatten vieles schon selbst gehört und erfahren. Und dieser Aha-Moment, dass auch für mich Raum da ist, dass auch ich besonders sein darf oder anders, hat mir literally ein für mich gesundes Leben ermöglicht.

The queer Imposter Syndrom

Meine Partnerin Ruby lernte ich 2023 auf der Pride kennen, inzwischen produzieren wir einen gemeinsamen Podcast zu queeren Themen, gehören demselben politischen Theater Ensemble an und engagieren uns gemeinsam aktivistisch. Sie ist trans femme, ich trans enby (short für non-binary) und als T4T Couple müssen wir ständig Wege gehen, die uns noch kaum jemand vorgelaufen ist. Wir sind gezwungen Kämpfe auszutragen, die keinen Spaß machen und die mit großen Zukunftsängsten verbunden sind.

Rubys und meine Gender-Identitäten unterscheiden sich, auch wenn wir beide unter dem trans Umbrella irgendwie nichtbinär sind. Unsere Sexualitäten unterscheiden sich, unsere Sexes assigned at birth ebenfalls. Dass wir unserer Beziehung das Label non binary lesbians geben, ist eine Entscheidung für uns selbst, die wir als passend empfinden.

Dennoch frage ich mich regelmäßig, ob ich für die Community queer genug bin. Es ist immer wieder eine kleine konservative Stimme in meinem Kopf, die mir einredet ich könne doch gefälligst bei dem Frau Label bleiben und ansonsten genauso leben, wie ich es tue.

Schließlich ist es natürlich möglich, eine Gender non-conforming Frau zu sein und sich genau so zu verhalten, wie ich es jetzt tue. Gender ist eine Performance, die Label machen im Grunde keinen Unterschied.

Und doch – es fühlt sich eben falsch an. Ich bin nun mal keine Frau, das weiß ich so sicher wie die Tatsache, dass ich Ruby liebe und wir alles andere als straight sind.

Straight Queer als mildernder Ausweg?

Liebe Bianca, du schreibst in deinem selbstreflektierten Text davon, dass du dich mit keinem der vorgegebenen Gender (Mann – Frau – divers) identifizierst. Der Mangel an Alternativen sowie die Tatsache, dass du den „Struggle und pain, den Transpersonen erleben“ nicht kennst, lassen dich am Label Frau und deinen Pronomen sie/ihr festhalten. Du datest zudem ausschließlich cis Männer (wenn auch queer präsentierend) und dennoch empfindest du dich auf eine Art als queer.

Mein erster Impuls ist genau der, den du beschrieben hast. Ich fühle mich an normschöne cis Dudes erinnert, die sich als so androgyn empfinden, dass sie sich für FLINTA*-WGs bewerben wollen.

Doch das A in FLINTA steht nicht für Androgyn, sondern für A-gender. Was technisch gesehen deiner Beschreibung deiner Genderidentität entsprechen würde. Und was denkst du über das Label Queer questioning? Auch Menschen, die im Prozess sind, ihre Queerness zu entdecken und sie sich zuzumuten, haben einen festen Platz in der Community.

Nicht alle trans Personen struggeln.

Viele trans Personen gehen durch einen harten Weg. Das liegt oft mehr an der mangelnden gesellschaftlichen Inklusion, als wirklich an der persönlichen Dysphoria, aber auch die ist natürlich ein Faktor. Dass alle trans Menschen ein großes Leiden empfinden, ist allerdings ein altbekanntes Vorurteil und entspricht nicht der Realität. Trans Aktivist*innen arbeiten daher schon lange daran, trans joy zu zeigen und zu zelebrieren, was leider medial noch so gut wie keinerlei Beachtung findet.

Möchte ich dir jetzt um jeden Preis ein queeres Label aufdrängen und dir einreden, du seist nicht straight? Natürlich nicht. Ich liebe es für dich, wenn du dein Label für dich findest und embraced, auch wenn es vermeintlich der Hetero-Culture entspringt.

Werden Labels zu komplex?

Wer Verständnisprobleme mit all den Labels hat, darf sich gerne auf queer zurückbesinnen. Auch Queers selbst sind manchmal erleichtert, sich damit nicht zu sehr festlegen zu müssen. Wem es aber wichtig ist, der*die darf viel neues, spannendes dazulernen.

Ich habe bis heute zum Beispiel keine einzige Fußballregel verstanden. Das liegt nicht daran, dass ich dafür keine intellektuelle Kapazität habe, sondern dass es mich einfach nicht im Geringsten interessiert. Ein Fußballspiel anzuschauen wäre aber sicherlich sehr viel spannender, wenn ich wüsste welche verschiedenen Strategien und Möglichkeiten es eigentlich gibt, den Ball ins Tor zu schießen. Dass für mich die Alternative ist, nicht am Fußballgeschehen teilzuhaben, ist für mich mehr Gewinn als Verlust, deshalb brauche ich die Regeln auch nicht lernen.

Gender & Sexualität sind riesengroße Spektren, von denen cis und hetero zwei sehr krasse Extreme darstellen. Ich denke, wenn wir in der breiten Gesellschaft mehr über Nichtbinarität und Queerness sprechen würden, wenn es deutlich mehr Repräsentation gäbe und mehr Aufklärungsarbeit geleistet würde, gäbe es noch viel mehr Labels und noch mehr Personen, die sich als queer outen würden – mit mehr Struggles oder weniger, mit Pronomen- und Vornamenwechsel oder ohne, und so weiter.

Die Queer Community als safe space

Ich und viele meiner Peers tragen das Label queer deshalb, weil wir uns zusammenschließen müssen. Aus einer Notwendigkeit, gemeinsam im Kampf gegen die alltägliche Repression. In den falschen Händen kann ein Label wie straight queer dazu dienen, die Angreifbarkeit zu mildern, die ein rein queeres Label innehat. Kann von hetero Typen mit Nagellack missbraucht werden, um in safe spaces zu gelangen. Ich lese aus deinem Text eine große Reflexion und Auseinandersetzung mit deiner eigenen politischen Verantwortung, deshalb hast du sicher eine Antwort auf die Frage: Wozu brauchst du das Label?

Du hast dich eine Ewigkeit sowohl auf der intellektuellen Ebene als auch durch viel Selbsterfahrung mit queeren Themen und intersektionalem Feminismus beschäftigt. Meiner Meinung nach werden die meisten Menschen, die das tun, zu dem Schluss kommen, dass sie zu einem gewissen Grad queer sind. Wir haben gelernt, dass straight-cis-amato-monogamous-white-Normativity ein kapitalistisches, patriarchales, kolonialistisches Konstrukt ist. Cis-Heteros sind meiner Meinung nach höchstens die seltene Ausnahme.

Denn was ist Gender am Ende? Sicherlich eine sehr philosophische Frage, deren Antwort aber meiner Meinung nach nicht aus drei bis sieben Schubladen bestehen kann. Wohlmöglich gibt es so viele Gender, wie es Menschen gibt.

Letztendlich zählt das Label, mit dem sich jede Person am meisten identifizieren kann, und nicht das, welches ihren Liebes- und Seinszustand am technisch klarsten definiert.

Ist deines straight queer? Then go for it. Und steig ein in unseren Kampf. You are more than welcome.

Quelle: Michelle Magulski
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Tommi (keine/they) arbeitet als Mindful Life & Business Coach und unterstützt Queers und Menschen mit ADHS dabei, ein kreatives und politisches Leben nach ihren Bedürfnissen zu führen. In Tommis Kolumne schreibt they über das kreative Leben als FLINTA* Person. Mit Tommis Partnerin Ruby (sie/keine) produziert they den Podcast Nich immer zanken, in dem die beiden über queere Themen, ihre Beziehung und Popkultur sprechen.