Ich hasse Krimis, so viel schon mal vorweg. Allerdings liebe ich Sandra Hüller seit Toni Erdmann sehr, weshalb ich mich an diesem Wochenende in einem Dilemma befand: Ins Kino gehen, oder nicht ins Kino gehen? Schließlich wird Sandra Hüller schon als Oscarpreisträgerin gehandelt. Ich entschied mich also dafür, und erwartete: eine packende Story, Spannung und eine dysfunktionale Liebesbeziehung, die im Nachhinein ordentlich durchanalysiert wird.
Stattdessen bekam ich: jede Menge alpine Landschaftsaufnahmen; ein langweiliges, vorhersehbares Kreuzverhör des Staatsanwalts und eine Instrumentalversion von 50 Cents „P.I.M.P.“ in Endlosschleife. Duh?
Aber von vorne.
Achtung, Spoiler Anfang
Der Film beginnt damit, dass die renommierte Schriftstellerin Sandra Voyter, die gemeinsam mit Mann und Kind irgendwo in den französischen Voralpen in einem renovierungsbedürftigen Haus lebt, Besuch von einer Studentin bekommt, die sie für ihre Masterarbeit interviewt.
Sandra trinkt ein Glas Wein, ist ganz „gut dabei“ und möchte ein bisschen Spaß in dieser Tristesse namens Schriftstellerinnen-Alltag haben. Plötzlich strahlt von oben diese grauenhafte 50 Cent Instrumentalversion in voller Lautstärke auf das ganze Haus aus, die Sandras Mann Samuel wohl nicht ganz unabsichtlich aufgedreht hat *zwinkerzwinker*. Sandra entschuldigt sich halbherzig, bricht das Interview ab. Sie geht hoch, Szenenwechsel.
Wir sehen den sehbehinderten Sohn des Paares, der nach einem Spaziergang mit dem Hund hoch zum Haus kommt und die Leiche seines Vaters auf dem Schneeboden vorfindet, woraufhin er seine Mama ruft, woraufhin diese die Polizei ruft und dann – wie soll es auch sonst sein – relativ schnell als Hauptverdächtige vor Gericht landet.
Spoiler Ende
Sandra ist verdächtig, weil sonst keiner da war, der es gewesen sein könnte. Weil die beiden verheiratet waren, und weil es Konflikte in der Ehe gab. Soweit, so unspannend. Ein weißes Akademiker-Paar am Land, das sich langweilt. Welche Ehe birgt in solch einer Einöde keine Konflikte? Wer hat sich noch nie in einem Streit Gemeinheiten an den Kopf geworfen?
Wir Zuseherinnen bekommen „zwei Welten“ gezeigt. Einmal die Zeit, in der die Dinge passieren und einmal die Zeit im Gerichtssaal. Nach der Hälfte des Films wäre ich eigentlich gerne gegangen, denn es geht in dem 150 Minuten langen Film vorrangig um eine Frage: Wie ist der mittelalte, weiße Mann mit Karrierekrise vom Balkon gefallen? Wo genau ist sein Kopf aufgekommen? Hat ihn vielleicht jemand geschupst? Oder ist er vielleicht selbst gesprungen?
Und hier liegt der Ursprung meines Desinteresses. Es interessiert mich ganz einfach nicht, wie dieser Typ gestorben ist, weil ich kein Interesse an +ihm+ habe. Von mir aus kann ihn seine Frau auch umgebracht haben, who cares.
Viel mehr interessiert mich das Leben der Hauptprotagonistin, Sandra, aber die hat keines mehr, seit sie wegen der „großen Liebe“ aufs Land in Frankreich gezogen ist. End of the story. Ist das nicht das eigentlich Deprimierende? Das verhunzte Leben der Schriftstellerin, und nicht der Tod ihres Mannes?
(K)ein feministischer Krimi
„Im Gegensatz zu anderen Gerichtsfilmen, in denen Frauen (zu Unrecht) angeklagt werden, verzichtet die Beschuldigte, sich je als Opfer hinzustellen. Sie zieht keine Register, versucht nie, die Zuhörer für sich einzunehmen, sondern verblüfft mit einer Geradlinigkeit, die besonders Frauen gerne als Kälte ausgelegt wird“, schreibt Alexandra Seibel im KURIER. Das mag schon stimmen. Sandra Hüllers Schauspielkunst ist auch nicht das Problem.
Anatomie eines Falls wird in gefühlt allen Medien als wahnsinnig progressiv und „anders“ beschrieben, aber ganz ehrlich, für mich war er auch nur ein weiterer Krimi, den ich gerne ausgeschaltet hätte. Die Liebesbeziehung („Beziehungsthriller“) der beiden Hauptdarsteller wird faktisch zwanzig Minuten thematisiert, der Rest handelt von nachgestellten Tatortszenen („Wie genau könnte der Mann vom Balkon gefallen sein?“) und einem traumatisierten Kind, das am Gerichtsprozess teilnimmt und auch darin aussagen muss. Don’t get me wrong, eh schlimm mit dem Kind und alles, aber der Film hatte doch eigentlich eine detaillierte Introspektive einer Ehe versprochen, oder etwa nicht? Interessante Details, weshalb eine Frau überhaupt so weit hätte gehen können?
Turns out: Genau diese Details bleiben aus. Die tatsächliche Dynamik von Sandra und Samuel lernen die Zuseherinnen nur durch eine einzige Tonaufnahme im Gerichtssaal kennen, in der sich der abgehängte „Hausmann“ Samuel im Grunde darüber aufregt, dass seine Frau erfolgreicher ist als er, weil sie angeblich eine Sequenz aus seinem Romanentwurf „gestohlen“ hat. Und selbst dieser große Streit klang meiner Meinung nach schon sehr konstruiert – und vorhersehbar.
„Buuuh, meine Frau ist erfolgreich und lebt ihren eigenen Rhythmus, deshalb werde ich ihr jetzt eine Szene machen und sie für sämtliche Misserfolge meines Lebens verantwortlich machen.“ Was daran ist bitteschön originell? Was daran ist nicht Patriarchat pur?
Oder sollte dieser Streit ein längst bekanntes Problem offenbaren, nämlich, dass es für erfolgreiche und talentierte Frauen in den meisten Fällen eine erschwerte Beziehungsanbahnung mit Männern nach sich sieht, ein höheres Trennungsrisiko, bis hin zur Gewalt?
Sollte irgendwer im Saal darüber überrascht sein, dass Sandra in einer sexistischen, misogynen Welt verdächtigt wird, ihren Mann ermordet zu haben? Weil er: lästig wurde? Als ob es ausgerechnet Frauen wären, die ihre Männer umbringen, und nicht umgekehrt. Soll das jetzt „progressiv“ sein, einer Frau mehr zuzumuten, als lediglich über ihre unglückliche Ehe zu weinen?
Spoiler Anfang
Für mich war es klar, dass es Sandra nicht gewesen sein konnte. Das hätte der Aussage des Films geschadet. Da ich also von Beginn an sehr sicher war, dass sie es nicht gewesen ist, verbrachte ich die restlichen 130 Minuten ohne jegliche innere Spannung, die aufgelöst hätte werden müssen. Was insgesamt ein eher bescheidenes Kinoerlebnis bedeutet.
Am Ende habe ich mich vor allem gefragt, wie fragil Männer-Egos sein müssen, um sich bei fehlender Anerkennung direkt aus dem Fenster zu stürzen. Als ob Frauen nicht Jahrhunderte genau so an der Seite von Tyrannen, Gewalttätern oder Unempathlern gelebt hätten. Hätte das nicht mal jemand thematisieren können, statt Sandra die Schuld in die Schuhe zu schieben?
Progressiv wäre der Film imho gewesen, wenn sich Samuel seiner toxischen Männlichkeit gestellt hätte, statt sich umzubringen und seiner Familie Traumata zuzufügen. Aber dann wär’s ja kein Krimi gewesen. Sondern Realität. Und von der sind wir leider noch weit entfernt.
Spoiler Ende
Anatomie eines Falls von der Französin Justine Triet, Cannes-Gewinner-Film
Was für eine dumme Kritik. Die dümmste, die ich seit langem gelesen habe.
„Der arme weisse Mann interessiert mich nicht, von mir aus hätte sie ihn umbringen können?“
Dieser Satz alleine disqualifiziert dich, Kritiken zu schreiben. Geh lieber in die Politik.