Na, siehst du das Herz deines 6 Wochen alten Embryos auch schon schlagen?
„In der 6. SSW macht das Herz Ihres Kindes den ersten Schlag“ – so steht es auf netdoktor.de, Google Treffer #1, wenn jemand „Embryo 6 SSW“ in die Suchleiste eintippt. Gleich darunter befindet sich ein Artikel auf eltern.de, in dem eine Autorin schreibt: „Mit ganz viel Glück kannst du bei einer Ultraschalluntersuchung in SSW 6 das schlagende Herz schon beobachten.“
Begleitet werden die fröhlichen Botschaften meist von 3D-Grafiken wachsender Embryos, die jenen von ausgewachsenen Babys gruselig ähneln. In der TK-App könnte frau ab der siebten Woche schon fast auf die Idee kommen, da sei jetzt ein richtiges Baby am Start, das man durch die Bauchdecke streichen sollte. Plot-Twist: Da ist nur leider nicht ganz so viel, wie erwartet.
Warum also das Theater?
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Für Recherchen zu meinem neuen Buch befasse ich mich gerade mit Artificial Wombs – und bin zufälligerweise auf die Seite MYA Network (Guardian berichtete) gestoßen, auf der die renommierte New Yorker Ärztin Dr. Joan Fleischman – naja, wie soll ich das höflich ausdrücken – zeigt, wie Schwangere im Internet angelogen, manipuliert und in ihren Muttergefühlen beeinflusst werden.
Denn zwischen der 5. und 9. Woche (nach dem ersten Tag der letzten Periode gerechnet) gibt es gar keinen sichtbaren Embryo. Bei frühen Schwangerschaften sehen wir deshalb nur die Fruchtblase (siehe Fotos unten).
Auch der so viel zitierte “Herzschlag” in der sechsten Schwangerschaftswoche ist nur eine elektrische Aktivität von Zellen, bevor sich ein echtes Herz bildet. „It is not mysterious, it is not magic. It’s biology doing what biology has evolved to do“, schreibt Dr. Abby Hafer dazu im Nachrichtenmagazin OnlySky.
Dr. Joan Fleischman hat sich aus drei ganz bestimmten Gründen dazu entschieden, dem Mythos seine Magie durch die fotografische Abbildung von entferntem Schwangerschaftsgewebe zu nehmen.
- Es ist wichtig, genaue Informationen darüber zu haben, was in unserem Körper während der Frühschwangerschaft passiert – und diese Informationen sind im Internet bemerkenswert wenig vorhanden.
- Diejenigen, die sich für Abtreibungspillen entscheiden oder zu Hause eine Fehlgeburt haben, könnten diese Informationen hilfreich finden.
- Die Informationen sind von entscheidender Bedeutung, um der absichtlichen Falschdarstellung von Schwangerschaftsgewebe entgegenzuwirken, die dazu benutzt wird, Patientinnen zu beschämen und Ärzte zu kriminalisieren.
Frauen, die abgetrieben haben, sind laut Dr. Joan Fleischman meist überrascht, dass gar kein „BABY“ oder Embryo ausgeschabt wurde. Sondern eben nur ein Haufen … tissue. Und danach erleichtert, dass sie niemanden getötet haben.
The issue with tissue
Ich muss ganz ehrlich sagen: ich wusste das nicht. Denn die 3D-Baby-Grafiken zu den Embryos sind tatsächlich überall, auch auf seriöseren Portalen wie Eltern.de, das zum Gruner+Jahr Portal gehört. Selbst auf der pseudo-seriösen Apotheken-Umschau schreibt eine Journalistin selbstbewusst: „In Woche 8 bewegt sich Ihr Baby vielleicht schon.“
Ganz ehrlich, ich glaube nicht?
Was ich dafür glaube ist, dass wir auch in unserer ach so progressiven und medizinisch fortschrittlichen DACH-Region ein Problem mit der Romantisierung von Schwangerschaften haben.
Ja, dass solche SEO-optimierten Brainwash-Portale Frauen, die seit einer Woche mit ihrer Periode überfällig sind, einreden, dass sie da gerade ein BABY in sich tragen. IT’S THE WRONG TERMINOLOGY, GODDAMMIT! Und das ist vielleicht langfristig noch schädlicher, als der eine weiße Spritzer zu viel in der ersten SSW. #justsayin
Wenn diese Frauen dann googeln, was gerade in ihrem Körper vorgeht, werden sie nicht neutral über ihre Rechte informiert, sondern mit allerlei kitschigen „Damit es deinem Baby gut geht“-Ratgebern vollgeschissen, die ihnen ab Tag 1 zum Mutterglück gleich ein schlechtes Gewissen mitgeben. Gratis dazu gibt es hyper-realistische 3D-Modelle, damit frau sich die KOMPLEXE Biologie schön ausmalen kann. Auch, wenn die Darstellungen wenig bis überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben. Na Herzlichen Glückwunsch!
Übrigens: Ich habe noch ein bisschen weiter recherchiert und habe online (bisher) im ganzen deutschsprachigen Raum keine bildhaften Informationen im Stil von Dr. Joan Fleischman darüber gefunden, wie Embryos IRL nach einer Abtreibung oder Fehlgeburt wirklich aussehen. Das wird natürlich auch daran liegen, dass Frauenärztinnen in Deutschland bereits dafür verklagt wurden, wenn sie auch nur über das Prozedere eines Schwangerschaftsabbruchs informierten.
Ich finde: Die karikaturesken 3D-Modelle von Frühschwangerschaften in Google-Suchen und auf Plakaten gehören verboten, weil sie Fake-News sind. Weil sie Frauen beschämen, die abtreiben möchten und weil sie, ganz einfach, nichts mit wissenschaftlichen Fakten zu tun haben.
Kann der Staat mal dagegen vorgehen, bitte?
PS: Wer mir als seriöser Quelle nicht glaubt, kann auch den Artikel der NYT lesen.