„Hauptsache gesund!“ – Diesen Spruch kennt fast jede, die gerade ein gesundes™ Baby geboren hat. Ich glaube, er sollte ursprünglich den Gender-Pressure von den Schultern der Eltern nehmen, verursacht in seiner plumpen Einfachheit aber leider Probleme auf einer ganz anderen Ebene.

Was, wenn das Baby nämlich nicht gesund, sondern behindert ist? Ja, was ist dann?

Luisa L‘Audace hat ein Buch über genau dieses „Was ist dann“ geschrieben. Denn sie kam 1996 mit einer Behinderung auf die Welt, die ihr Umfeld ganz schön überforderte. In ihrem Dorf war sie das einzige Kind mit Behinderung – und das ließen sie ihre Klassenkameraden auch mit Handlungen und Worten spüren.

Zum Beispiel beim Sportunterricht, wo Luisas Mitschüler sie nicht ins Team wählten. Oder im Einkaufszentrum – auch als Epizentrum gelebter Teenie-Freundschaft bekannt – wo ein Mädchen nicht mit Luisa gesehen werden wollte, weil diese dann nicht mehr als „cool“ gegolten hätte.

Stil: Wie ist das Buch geschrieben?

Luisa hält sich weder mit ihrer Meinung, Details ihrer Lebensgeschichte noch mit ihren Gefühlen zurück, was mich persönlich beim Lesen sehr gefreut hat. Der Ton ist selbstbewusst, emanzipatorisch, zugleich hart und gefühlvoll. Ich mochte, dass Luisa nicht auf Zwang versuchte ihren Leserinnen etwas „Positives“ aus ihren Mobbing- und Diskriminierungserfahrungen mitzugeben. Frei nach dem Motto: Behindert und stark. Nein, der Titel heißt nicht umsonst behindert und s-t-o-l-z.

Luisa erinnert daran, dass es nicht darauf ankommt, was deine ignoranten Verwandten über deine Behinderung sagen; sondern, dass du Menschen brauchst, für die deine Behinderung kein „No-Go“, keine unüberwindbare Hürde und auch keinen „Makel“ darstellt.

Menschsein ist anstrengend genug.

 

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Genre: Memoir trifft Sachbuch

Das Buch ist eine gelungene Mischung aus Memoir und Sachbuch, die jeweiligen Teile wechseln sich regelmäßig ab, sodass nach einem eher trockenen, theorielastigen Teil auch jeweils wieder Luisas eigene Geschichten Platz finden.

Wer bereits gut über den Ableismus-Diskurs Bescheid weiß und sich nicht erst seit gestern damit beschäftigt, wird an der einen oder anderen Stelle (Was ist Ableismus, Sprache ist Macht) überblättern und gleich zum essayistischen Part übergehen, der mich in seiner Wut, Prägnanz und Deutlichkeit immer wieder zum Nachdenken anregte.

Zum Beispiel, wenn Luisa schonungslos ehrlich über die verletzenden Kommentare ihrer Verwandten spricht, die ihren eigenen internalisierten Ableismus bis dato nicht überwinden konnten. Ich habe auch gelernt, dass die vermeintliche Barrierefreiheit, mit der sich viele Institutionen rühmen, gar nicht existiert. Die allermeisten Orte sind maximal barrierearm, aber nie barrierefrei, weil die Range an unterschiedlichen Behinderungen von der nicht-behinderten Gesellschaft gar nicht berücksichtigt wird.

Gut hat mir auch Luisas Kritik an Lohnarbeit gefallen – siehe folgendes Posting.

 

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Wer sollte „Behindert und stolz“ lesen?

Ganz ehrlich? Ich befürchte, dass das Buch bubblebedingt mal wieder von jenen gelesen wird, die sich ohnehin bereits bemühen, eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Also: Von Eltern mit behinderten Kindern, behinderten Menschen oder Menschen mit behinderten Angehörigen.

Gleichzeitig hoffe ich natürlich, dass das Buch von Luisa L‘Audace auch mal in die Hände derjenigen fällt, die behindert immer noch in erster Linie als Schimpfwort gebrauchen, Berührungsängste haben und sich nichts Schlimmeres vorstellen können, als ein behindertes Kind zu gebären.

Fazit

Luisa sagt es selbst: Solange behinderte Frauen über ihre Behinderung schreiben, haben wir noch einen langen Weg vor uns. Solange behinderte Frauen auf “dieses Thema” reduziert und von Medienmachern instrumentalisiert werden, kann von Chancengleichheit und einer diversen Gesellschaft keine Rede sein.

Ich bin sicher, dass Luisa noch viele weitere Themen hat, mit denen sie künftig an die Öffentlichkeit gehen möchte.

Liebe Verlage, haut euch ran. Denn diese Frau, sie kann schreiben.

Luisa L’Audace (2022): Behindert und stolz. Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht. Eden Books.

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