Beatrice Frasl hat ein Buch geschrieben. Endlich, könnte man fast meinen, schließlich ist die Kulturwissenschafterin, Geschlechterforscherin und Podcasterin seit vier Jahren auf Social Media aktiv und hat sich durch ihre Threads, Kommentare und Storys zu einer der wichtigsten Stimmen auf dem hartumkämpften Mental-Health-Pflaster etabliert.

Im November 2022 ist ihr Buch mit dem progressiven Namen „Patriarchale Belastungsstörung“ beim Haymon Verlag erschienen und mit mir nach Indien gereist. Ein idealer Ort, um sich Gedanken über Geschlecht, Klasse und Psyche zu machen, wenn ihr mich fragt.

Nun ist es ja meistens so, dass man nicht genau weiß, was einen erwartet, wenn man das Buch einer „Internet-Person“ in den Händen hält. Wird es persönlich? Faktenlastig? Unterhaltsam, oder überambitioniert-fad? Deshalb habe ich das Buch für euch Supporter genau inspiziert und in den Kategorien Erster Eindruck, Inhalt, Learnings und Kritik kommentiert.

Enjoy

Erster Eindruck

Im Falle von Frasl kann ich euch verraten: Das Buch ist eher Doktorarbeit, als Memoir; mehr wissenschaftliche Fakten als persönliche Lebensweisheiten und mehr Arbeit, als leichtes Lesevergnügen.

Zum Teil sind mir bei Sätzen wie – „Auf eine physiologische Fehlfunktion reduziert, wird den Ungleichheitsverhältnissen ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit genommen“ – unangenehme Erinnerungen an Uniseminare hochgekommen. Das liegt sicher auch an den vielen (englischen) Quellen, die Frasl korrekt übersetzt, zitiert und in komplexe Schachtelsätze packt, um Mythen rund um die mentale Gesundheit von Frauen argumentativ zu entkräften. Sieht dann so aus:

Eines fällt sofort auf: Das, was da vor mir liegt, ist sicher kein “Influencer”-Buch. Selten habe ich ein so gut recherchiertes Buch gelesen, das den pseudowissenschaftlichen Instagram-Diskurs um psychische Krankheiten heftigst geraderückt und dabei die Verbindungen zwischen Patriarchat und psychischer Gesundheit aufdeckt.

Um was geht’s?

So ungefähr ALLES, was aktuell so an Halbwissen im Internet und auf Social Media kursiert? Darum, dass eine psychische Krise eben kein Beinbruch ist, Psychotherapie in manchen Gesellschaftsschichten Österreichs immer noch als unnötiger Luxus betrachtet wird – aber auch um Vereinzelung als Gift für die Seele, die Frau als eingebildete Kranke, den Unterschied zwischen Psychiatrien damals und heute und die Auswirkungen des Patriarchats auf die generelle gesundheitliche Verfassung von Frauen.

Das vielleicht wichtigste Kapitel ist die Debatte rund um das „neurochemische Ungleichgewicht“ im Gehirn, das angeblich für allerlei affektive Störungen verantwortlich ist. Ja, es ist sogar das populärwissenschaftliche Erklärungsmodell unserer Zeit, das den Fokus weg von strukturellen Problemen in der Außenwelt, hin zu nicht beeinflussbaren Faktoren wie der eigenen Biologie und Genetik verschiebt.

Oder, um Frasl zu zitieren: Anstatt Anorexie, Depression und die Borderline-Persönlichkeitsstörung als Ausdrucksformen weiblichen Leides und einen Effekt patriarchaler Verhältnisse zu verstehen – als eine Folge von Gewalt, Diskriminierung, Abwertung –, katalogisiert die psychiatrische Medizin die Effekte dieser Verhältnisse als eine Reihe von Problemen in den Köpfen der Unterdrückten. Bäm.

Frasl stellt nicht nur die richtigen Fragen an den richtigen Stellen, sie beweist mit ihrer messerscharfen Analyse auch, dass sie eine hervorragende Wissenschafterin ist, die dem blinden Fleck der Psychotherapie auf die Schliche gekommen ist. Warum gibt es ein Battered Women Syndrome, aber kein Battering Man Syndrome.

Warum ist die Reaktion auf Gewalt pathologisch, die Gewalt selbst aber nicht? Und warum stellt sonst niemand diese Fragen bitte?

Für einige Mental-Health-Influencerinnen vielleicht unangenehm ist die Frage, wann Diagnosen sinnvoll sind – und wann sie unnötig stigmatisieren. Können Diagnosen Teil des therapeutischen Prozesses sein, weil sie Betroffenen die Erleichterung verschaffen, dass ihr Problem „echt” ist – und ernst genommen wird? Oder müssen wir uns insgesamt von Diagnosen verabschieden, weil sie Konstrukte sind. Weil sie eben auch Herrschaftsinstrumente und dadurch von gesellschaftlichen Normen durchzogen sind, die „normal” und „abnormal” nach patriarchalen Vorstellungen auseinandersortieren.

Was habe ich gelernt?

Erstens: Dass das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) von einer elitären Gruppe weißer männlicher Psychiater aus der Mittelschicht beschlossen wird, die an einem Tisch sitzen und entscheiden, was normal oder abnormal ist. Frei nach dem Motto: „Du kannst deine neu entdeckte Störung hier reinschreiben, wenn ich meine hier reinschreiben kann.“

Obwohl die Autoren des DSM versichern, dass sie ideologiefrei handeln, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass auch die Psychiatrie und Psychologie seit Jahrhunderten von Rassismus, Klassismus und Frauenfeindlichkeit lebt. Schade.

Zweitens: Dass ich mit meinem Bauchgefühl in Punkto Diagnosen richtig lag. Frasls Lektüre zeigt anhand prägnanter Beispiele beispielsweise auf, wie gewisse Charaktereigenschaften bei Frauen und Männern zu unterschiedlichen Diagnosen führen. Oder habt ihr schon einmal einen dominanten, aggressiven Mann kennengelernt, der mit einer Borderline-Diagnose nach Hause geschickt wurde?

Drittens: Mein Gott, ist das alles abgefucked. Alles ist noch viel schlimmer, als gedacht.

Kritik

Kommen wir zur Kritik, denn diesen Punkt muss ich einbringen: Ich schätze die aufwendige Recherche, die in dieses Buch geflossen ist – bin aber nicht sicher, ob gerade jene Frauen, die am stärksten unter patriarchaler Gewalt leiden dieses Buch verstehen werden. Manche Passagen musste ich drei Mal lesen, weil die Essenz eben nicht in einem kompakten Satz vermittelt wurde – was an manchen Stellen durchaus möglich gewesen wäre. Auch waren es für meinen Geschmack zu viele zitierte Studien. Manch ein Punkt wäre auch ohne zitierter Primärquelle stark rübergekommen.

Ob der Joke „Posttraumatische Belastungsstörung“ – „Patriarchale Belastungsstörung“ aufgeht, müsste noch in einer Umfrage geklärt werden. Ich persönlich finde den Titel super, fürchte aber, dass er Therapie-Laien irritieren könnte.

Für wen ist dieses Buch also dann? Für die Instagram-Bubble, die sich nicht von ihrem sekundären Krankheitsgewinn verabschieden mag?

Für Patientinnen, die mehr über die Geschichte der Femme Fragile und Gewalt in der Psychiatrie erfahren möchten, bevor sie sich selbst einweisen? Wahrscheinlich bin ich die Zielgruppe: Akademikerin, internetaffin, therapieerfahren, selbst Autorin und im Bereich Mental Health aktiv.

Übrigens: Voyeuristisch wie ich bin, hätte ich gerne mehr über Frasls Lebensumstände erfahren, die zu ihren Depressionen führten. An einigen Stellen hatte ich das Gefühl, dass die Autorin sich bewusst zurückhält, um Hatern kein weiteres Angriffsmaterial zu liefern. Schade – denn die persönlichen Stellen fand ich ehrlicherweise sehr viel greifbarer, als die x-te Studie zum Thema Mental Load. Hier hätten es ruhig zwanzig Seiten weniger, und an der anderen Stelle zwanzig Seiten mehr sein können. Aber das ist nur meine Präferenz.

Fazit

Kurz: Es ist so wichtig, dass es jetzt dieses eine Buch gibt, das das Thema female Mental Health von A bis Z anhand von Fakten durchackert. Ich kann nur erahnen, wie hart es gewesen sein muss, das Material zu sichten, zusammenzutragen und zu kommentieren.

Ich sehe das Buch definitiv als Fachbuch. Als eine Art Lexikon, ein Nachschlagewerk, das ich immer wieder heranziehen und zitieren werde, wenn mir jemand sagt, dass ich bei Problem X einfach mal ein SSRI einwerfen sollte. Oder, dass Männer mittlerweile wohl genauso schlimm unter dem Patriarchat leiden, wie Frauen.

An einigen Stellen hatte ich wenig Hoffnung für die Spezies Mensch und wünschte mich in eine ferne, gewaltfreie Zukunft. Aber auch an das hat Frasl gedacht! Sie fragt: Welche heute pathologisierten Symptombilder werden wohl in hundert Jahren für völlig normal gehalten werden? Und welche heute als normal geltenden Verhaltensweisen und Reaktionen werden in hundert Jahren pathologisiert sein?

Wo werden wir die Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit ziehen? Und in welche diagnostischen Kategorien wird diese Verrücktheit von wem gefasst werden?

Only time will tell. Oder Bea Frasl in fünfzig Jahren. Hoffen wir drauf!

Beatrice Frasl, Patriarchale Belastungsstörung ist im Haymon Verlag erschienen.
Ich bedanke mich recht herzlich für das Presseexemplar und die Wahnsinnsleistung, die in diesem Buch steckt.

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