Gestern in der Tagesschau habe ich eine Headline gelesen, bei der ich nicht ganz glauben konnte, dass sie es zur Prime-Time in die Haushalte Deutschlands geschafft hat. „CDU fordert Entlassung von Ministerin Spiegel“ – hat wieder irgendjemand Lebensläufe verschönert? Ein peinliches Statement abgegeben? Parteispenden nicht korrekt angegeben?

Nein.

Was hat die Frau also bitte getan? Sie ist … in den Urlaub gefahren!

„Oh wow“, denke ich. „Sowas gibt’s wirklich nur in Deutschland.“

Hier nochmal die Fakten: Spiegel war einige Tage nach dem verheerenden Hochwasser an der Ahr in den Urlaub gefahren. Zehn Tage nach der Flut hatte sie – damals noch rheinland-pfälzische Umweltministerin – einen vierwöchigen Familienurlaub in Frankreich angetreten.

Sie war im Urlaub telefonisch erreichbar und hat sich ständig über die Lage informiert, aber an den Kabinettssitzungen in dieser Zeit nicht teilgenommen.

Jetzt fordert die CDU die Entlassung von Spiegel. Und was macht Anne Spiegel? Sie erzählt in einem Video über ihr Privatleben. Damit ganz Deutschland weiß, dass sie auch WIRKLICH GUTE Gründe hatte, wegzufahren.

Ich sage: What the fucking hell.

Wie kann es sein, dass sich eine Frau mit vier Kindern in einer Spitzenposition während einer Pandemie dafür rechtfertigen muss, auch einmal eine Auszeit zu brauchen? Warum muss sie erst in einem Video vom Schlaganfall ihres Mannes erzählen, Mitleid erhaschen, ihre Psyche brachlegen, damit die Stimmen da draußen etwas leiser werden?

„Es war wirklich an einem Punkt, zum ersten Mal für uns als Familie, wo wir Urlaub gebraucht haben, weil mein Mann nicht mehr konnte.“
Zitat aus Spiegels Video

CDU-Chef Friedrich Merz forderte Bundeskanzler Olaf Scholz im Bericht aus Berlin auf, Spiegel zu entlassen: „Vier Wochen Urlaub in einer solchen Katastrophe, wo Menschen sterben – das hat eine andere Dimension.”

Dabei hat Spiegel nicht NICHTS getan. Sie hat an jenem Morgen der Katastrophe einen Krisenstab einberufen, um die Wiederherstellung von Kläranlagen und der Energieversorgung sicherzustellen. Zudem hat sie die Beseitigung von Schutt und Abfall und ein 20 Millionen Euro Sofortpaket in die Wege geleitet. (Quelle)

Was hätte sie sonst machen sollen? Jeden Tag pathetisch im Katastrophengebiet auf- und ablaufen? Sich „bürgernah“ geben wie Armin Laschet – den sein Lacher im Hintergrund die Kanzlerschaft gekostet hat? Hätte das den Menschen wirklich so viel Leid erspart?

Jetzt sind wir mal ehrlich: Politikerbesuche in Kriegs- und Katastrophengebieten sind ohnehin meist nur symbolisch. Ja klar, es hätte gut ausgesehen, wenn Spiegel ihren Urlaub abgesagt hätte.

Aber wem hätte es WIRKLICH etwas gebracht?

Spiegel ist Bundesfamilienministerin und hat damit eine politische Spitzenfunktion inne. Ab Januar 2021 hat sie sogar einige Monate auch noch das rheinland-pfälzische Umweltministerium geschäftsführend übernommen. Für kein Geld der Welt würde ich gerne Spiegels Terminkalender koordinieren müssen. Oder mich den harschen Aussagen der deutschen Polit- und Journalismuslandschaft stellen, die Spiegel unterstellen, das „Schicksal der Menschen an der Ahr sei ihr egal“.

Gegenfrage: Ist dir das Schicksal der Menschen in der Ukraine egal, nur, weil du heute im Supermarkt ein fettes Steak gekauft hast? Ist dir dein kranker Nachbar egal, weil du deiner Mutter versprochen hast mit ihr übers Wochenende nach Brandenburg zu fahren? Die Argumentation lackt – und ist schier unmenschlich. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass der Trip nach Frankreich nicht der Urlaub ihres Leben war, ne?

Spiegel ist nicht vor der Verantwortung geflüchtet. Im Gegenteil. Sie hat Verantwortung für sich selbst und ihre Familie übernommen, der es schlecht ging. Sie hat sich für ihren Mann entschieden, der seit 2019 jeglichen Stress vermeiden soll und seine Frau bestimmt schon länger nicht mehr glücklich und entspannt am Strand gesehen hat.

Deutschland muss endlich aufhören, Menschen (ja, auch privilegierte Menschen) wie Roboter zu behandeln, die ohne Rücksicht auf persönliche Schicksale und Bedürfnisse funktionieren müssen – komme, was wolle. Die deutsche Leistungsgesellschaft in sich ist krank – und das zeigt sich auch in Anne Spiegels Privatleben. Kein Wunder ist sie ausgebrannt – aber sie darf sich nicht als ausgebrannt zu erkennen geben. Es gibt ja immer noch IHR AMT1111!!!

Anne Spiegel sollte sich meiner Meinung nach nicht in einem öffentlichkeitswirksamen Video für etwas entschuldigen, das jedem Menschen zusteht.

Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes sagt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Und ja, das Grundrecht schützt sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit eines Menschen.

Na dann Schwestern, noch jemand Bock auf Top-Management und Polit-Amt?

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