Nach ausgiebigen Spaziergängen wie heute schlage ich abends am liebsten das Buch „Nichts tun“ von Jenny Odell auf. Ich kann nicht aufhören, ihre klugen Gedanken mit einem fetten, blauen Marker anzustreichen. Bücher, die mich packen, schauen am Ende aus als hätte sie ein Hund abgeleckt und an den Ecken zerkaut. Es ist ein gutes Zeichen, und hat nichts mit der mangelnden Wertschätzung des Mediums zu tun.
Odell ist schriftstellende Künstlerin und hat sich lange auf die Frage konzentriert, wie sie sich selbst und ihr Umfeld zu mehr digitaler Selbstkontrolle ermächtigen könnte. Während ihrer Recherche stolperte sie über die sogenannten Technikethiker, die dem mainstreamigen Ansatz der „Dann leg dein Smartphone halt weg“-Selbstkontrolle radikal gegenüberstehen.
„Das Problem so darzustellen, als müssten wir nur achtsamer in unserem Umgang mit Apps sein, ist so, als würden wir sagen, wir müssen einfach achtsamer sein in unserer Interaktion mit Algorithmen künstlicher Intelligenz, die uns beim Schach schlagen. Ebenso hochentwickelte Algorithmen schlagen uns beim Aufmerksamkeits-Spiel unentwegt.“
Devangi Vivrekar, „Persuasive Design Techniques in the Attention Economy: User Awareness, Theory and Ethics“
Für die Wissenschaftlerin Vivrekar ist die Persuasion eine „unumstößliche Gegebenheit“. Das Einzige, was wir gegen sie unternehmen können, ist, sie umzulenken. Wir sollten realisieren, dass hunderte von Ingenieuren und Designern jede unserer Bewegungen auf den Plattformen vorausberechnen und planen – und wir daran relativ wenig ändern können. Was wir jedoch tun könnten, wäre, unseren Diskussionsfokus auf die ethische Persuasion zu richten.
„Noch nie gehört“, denke ich mir, und lese gespannt weiter. „Ethische Persuasion“ bedeutet, einen User davon zu überzeugen, etwas zu tun, das gut für ihn ist. Unter Verwendung von harmonischen Designs, die uns kontinuierlich stärken, anstatt uns zu frustrieren. „Mich stärken, was zu tun? Gut für mich, nach wessen Dafürhalten? Und an welchen Normen gemessen? Zufriedenheit, Produktivität?“, fragt Odell berechtigt. Und auch ich stelle mir hier in Göteborg die Frage, nach welchen Kriterien ich bitteschön die Dinge, die ich online tue, künftig einordnen und bewerten soll.
Klar gibt es Aktionen, die meine Personal Brand stärken, sie wachsen und „authentischer“ rüberkommen lassen. Aber handle ich damit nicht auch immer wieder im Aktionsradius des Kapitalismus, ohne mich auch nur ein kleines Stückchen von der Plattform zu befreien? Auch ist es mir mehr als bewusst, dass Scrollen nicht gut für mich ist, weil es lediglich eine oberflächliche Art der Aufmerksamkeit voraussetzt. Ja, es macht mich sogar regelrecht wütend, wenn ich Freunden Links zu Long-Form-Content sende und sie mir als Antwort nur ein: „Cool, hab’s überflogen“ zurückschicken, weil sie gerade auf Instagram oder TikTok hängen.
Ich weiß, dass es mir besser geht, wenn ich Audio-Books höre, statt schnelllebige Nachrichtenpodcasts. Wenn ich Bücher lese, statt kontextamputierte Rage-Tweets. Ja, auch wenn ich Bücher schreibe, statt Artikel. Wenn ich mit Freunden telefoniere, statt nur kurz „hahahah, voll“ zurückzuschreiben. Dass sich mein Kopf nach einer fünfstündigen Autofahrt mit nettem Ausblick aufgeräumter anfühlt, als nach einem siebenstündigen Arbeitstag voller Bullshit-Tasks vor dem Bildschirm.
An normalen Tagen zwischen Mails, Korrekturschleifen mit Kunden und dem Bangen um das pünktliche Erscheinen meiner Podcast-Partner kann ich meist keinen klaren, großen Gedanken fassen. Oft kommt es mir vor, als ob ich von Tag zu Tag zwischen Geschirrspüler und Lidl leben würde, von Posting zu Posting, von ungeklärtem Konflikt zu ungeklärtem Konflikt, von fehlender Selbstkontrolle in jedem Bereich meines Lebens.
Ich bin genauso wie Odell unzufrieden mit untrainierter Aufmerksamkeit – meiner, und auch der meiner Mitmenschen, weil sie von einem Feed, von einem Medium zum nächsten flattert und das in den meisten Fällen eine oberflächliche Erfahrung bedeutet. Weil es eher ein Ausdruck von Gewohnheit beim morgendlichen Klogang, als von Willen ist. Ich möchte meine Aufmerksamkeit zurück, weil sich tiefgreifendere, widerstandsfähigere oder nuanciertere Formen von Aufmerksamkeit weniger leicht kapern lassen, da ihnen Disziplin und Wachsamkeit eigen sind.
All das – die arrogante Abkehr von Social Media, der Technikdeterminismus und fast schon narzisstische Rückzug von den Schauplätzen der Online-Welt ist an sich nichts Neues –, und doch finde ich Odells Buch stellenweise so inspirierend, so non-judgemental, nahbar und wegweisend, dass es mir während dieser Reise tatsächlich noch viele Momente bescheren wird, die mich meine Umwelt deutlicher intensiver wahrnehmen werden lassen, als je zuvor.
Obwohl das Buch „Nichts tun“ heißt, geht es wahrlich nicht darum, nichts zu tun oder gegen Technologie zu sein. Sondern vielmehr die vermeintlich einfache Fähigkeit zurückzuerlangen, einen Gedankengang zu Ende zu führen. Innere Resistenzen und Widerstände aufzubauen, den immerwährenden Standpunkt der kapitalistischen Produktivität zu verlassen und aktiv am Gegenwärtigen teilzuhaben.
Dem, was direkt vor der eigenen Nase passiert.