Kurze Einstiegsfrage: Warst du schon einmal als Kläger*in vor Gericht? Hast du schon einmal eine Anwältin aufgesucht, um eine Klageschrift in Auftrag zu geben?
Die meisten Normalos wie du und ich werden diese Fragen mit „Nein“ beantworten.
Und auch eine Forsa-Studie im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft aus 2013 konnte bestätigen, dass 71 % der begründeten Verbraucher*innen-Ansprüche hierzulande nicht zur Durchsetzung gelangen, weil +wir+ aus (berechtigter) Angst vor den Prozesskosten den Gang zu Gericht scheuen.
Nennt man in der juristischen Fachsprache auch: rationales Desinteresse. Logisch, irgendwo: wer will schon im Worst Case die kompletten Prozesskosten inklusive der Anwaltskosten der Gegenseite tragen, wenn es sich um Forderungen in Höhe von wenigen 100 Euro handelt.
Moment mal, … soll das so sein?
Eigentlich nicht, denn unser Zugang zum Recht – auch Access to Justice genannt – fußt auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Der Rechtsstaat muss nicht nur einen handlungsfähigen und starken Staat, sondern auch gerade die Individualrechte aller (!) Menschen mit einem leistungsfähigen Rechtsschutzsystem gewährleisten.
Wir statusniedrigen Bürger*innen müssen also die generelle Chance zur kostenmäßig zumutbaren und praktikablen Durchsetzung unserer Rechte gegenüber wirtschaftlich Mächtigeren sowie dem Staat haben. Und das trotz des faktisch vorhandenen Machtungleichgewichts zwischen Verbraucher*innen und globalem Konzern.
Leider klappt genau das in der Praxis oft nicht, da wir bekanntlich nicht in einer fairen Friede-Freude-Eierkuchen Wirtschaftsordnung leben, sondern mehr in einer „Fressen oder gefressen werden“-Welt, in der der ökonomisch Stärkere profitiert. Das kritisierte schon Mauro Cappelletti in den späten 1970er-Jahren, als die Debatte zu Access to Justice zum ersten Mal aufkam.
Er fragte sich schon damals, wie die Gesellschaft den Zugang zum Recht einfacher gestalten könnten. Lange Zeit geriet das Thema in Vergessenheit, bis es Mitte der Zehner-Jahre wieder in EU-Dokumenten als Motivations-Punkt auf der Agenda für Verbraucherrechtsinstrumente aufkam.
Der kleine Unterschied
Unternehmer sind Vielfachprozessierer, die genau wissen, welcher Rechtsstreit sich lohnt. Sie haben motivierte Anwält*innen, die kreative anwaltliche Arbeit leisten, Erfahrung und Optimismus an den Tag legen und über einen langen Zeitraum bezahlt und gehalten werden. Die Unternehmer können zudem auch Fachpublikationen in Auftrag geben, um Rechtsprechungen zu veröffentlichen und durch gewonnene Fälle Präzedenzkontrolle behalten. Das heißt, dass Unternehmen gerne viel Geld in die Hand nehmen, um für sie positive Präzedenzen zu schaffen. Sobald ein BGH-Urteil gefällt wird, orientieren sich auch kommende Urteile daran.
Naja, und was machen jetzt +wir+, die vielleicht nur einmal in unserem Leben ein Rechtsproblem haben? Anders als Unternehmer sind wir als Verbraucher*innen in der Regel Einmalprozessierer mit schwachen und wenig involvierten Anwält*innen, weil wir uns keine umfassende Rechtsberatung leisten können und wir werden von Unternehmen eingeschüchtert oder „ausbezahlt“, bevor überhaupt ein für Verbraucher*innen positives Urteil gefällt werden könnte.
Wir haben kein Präzedenzinteresse, scheuen Kosten und Risiko und haben oft keine Lust auf die Öffentlichkeitsarbeit. Sprich: unser Zugang zum Recht wird durch dieses Machtungleichgewicht massiv behindert.
Wie könnte man also Parteien, die aufgrund dieses Ungleichgewichts nur geringe Chance haben, einen Prozess zu gewinnen, nachhaltig helfen? Wie kann ich als einfacher Otto-Normalverbraucher dahin kommen, dass mein Recht berücksichtigt und durchgesetzt wird?
Hier kommt Legal Tech ins Spiel.
Das Wort setzt sich aus „legal services“ und „technology“ zusammen und bezeichnet grundsätzlich die Digitalisierung der juristischen Arbeit. Der Definition von legal-tech.de nach sollen …
einzelne Arbeitsprozesse, aber auch ganze Rechtsdienstleistungen vermehrt automatisiert ablaufen, um eine Effizienz- und Qualitätssteigerung zu erzielen und somit Kosten einzusparen.
Hinter dem Begriff Legal Tech steckt auch eine spezifische Herangehensweise, bei der Rechtsberatung nicht mehr als individuelle Dienstleistung, sondern als (teilweise) skalierbares Produkt gesehen wird.
Ich würde Legal Tech als Abkürzung zur Rechtsdurchsetzung bezeichnen. Wenn ein vermeintlich individuelles Verbaucher*innen-Problem kollektiviert wird, können auch große Konzerne und Machthabende nicht mehr wegsehen. Portale wie flightright.de oder geblitzt.de haben beispielsweise die Digitalisierung genutzt, um Rechtsberatung nahezu vollständig zu automatisieren. Und zwar bei den Fällen, die hundertfach und immer wieder in ähnlicher Weise vorkommen.
Das ist bei der Durchsetzung von Fluggastrechten der Fall, wie auch bei Bußgeldbescheiden. Von der Datenaufnahme bis hin zum Antrag auf Schadenersatz wird alles von der jeweiligen Software übernommen. Wie genau das technisch abläuft, ist natürlich vom jeweiligen Unternehmen und seinen Programmierer*innen abhängig.
Anwälte und Anwältinnen sollen wenn möglich nur dann zum Einsatz kommen, wenn ein Fall vor Gericht geht. Legal Tech gibt es inzwischen in den unterschiedlichsten Bereichen. Zum Beispiel bei Legal Tech im Mietrecht (wenigermiete.de), oder Legal Tech bei Fahrgastrechten (bahn-buddy.de). Es gibt ein Legal Tech, das sich auf fehlerhafte Bußgeldbescheide spezialisiert hat (geblitzt.de) und deinen Hartz-4-Bescheid kostenlos prüft (hartz4widerspruch.de).
Zwei-Klassen-Rechtsdurchsetzung?
Es gibt natürlich auch Kritik, dass Legal Tech zu einer Art Zwei-Klassen-Rechtsdurchsetzung führen könnte. Nach dieser Argumentation gibt es auf der einen Seite den privilegierten Teil der Verbraucher*innen, die genügend Zeit und Geld haben, um die zustehenden Forderungen in voller Höhe mithilfe von anwaltlicher Einzelfallberatung durch die staatlichen Gerichte geltend zu machen.
Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die auf industrielle Standardlösungen angewiesen sind, auf einen menschlichen Anwalt und auf einen Teil der Forderungen verzichten müssen, weil ein Legal-Tech-Unternehmen zum Beispiel 20 % der Forderungen als Honorar einbehält.
Auch zum Thema „Geldmachen durch Juristerei“ gab und gibt es viele Diskussionen, die unter anderem in dieser Vorlesung von Martin Fries nachgehört werden können.
Angesichts der Forsa-Studie (siehe oben) und eigenen Erfahrungen muss ich allerdings an dieser Stelle sagen, dass die „Angst“ nicht Überhand nehmen sollte. „Die Entwicklung ist insgesamt betrachtet als Chance für den Rechtsstaat zu begreifen“, schreibt Christina Leeb in ihrer Dissertation Digitalisierung, Legal Technology und Innovation. Denn „so vergrößert sich angesichts der kostengünstigen und schnellen Möglichkeiten einer Ersteinschätzung der eigenen Erfolgsaussichten durch Alternative Legal Service Providers der Rechtsmarkt im Gesamten.“
Denn die Gründe, sich nicht an Anwält*innen zu wenden, sind vielzählig. Einerseits haben viele Nicht-Jurist*innen Angst davor, Rechtsberater*innen anzurufen, weil sie negative Assoziationen mit dem Berufsstand haben: „Die wollen mich abzocken!“, „Das kostet sau viel Geld!“, „Was, wenn die gar nicht auf meiner Seite sind?“ Zumindest die Angst vor den Kosten ist ja auch nicht ganz unberechtigt, da individuelle Vergütungsvereinbarungen statt der Abrechnung der gesetzlichen Gebühren immer möglich sind. So eine Stunde beim Anwalt kann schnell 250 Euro kosten, also vorher bitte immer nachfragen, wie die Arbeitszeit verrechnet wird.
Außerdem wissen viele Verbraucher*innen nicht über die Zivilprozessordnung Bescheid und verrennen sich so in Verfahren, die für den geringen Streitwert gar nicht zielführend sind, weil der Prozess im Worst Case mehr kostet, als die Forderung die eingetrieben werden soll. Bei einer Mieterhöhung von 200 Euro belaufen sich die Gesamtkosten für einen Anwaltsbrief beispielsweise auf 334,75 Euro.
Kurz: Vielen Verbraucher*innen ist etwas „weniger Recht“ lieber, als eben „gar kein Recht“. Durch Legal Tech Technology verschmälert sich daher der „Access to Justice Gap“. Durch Legal Technology könnte so manch Individualrecht im Verbraucherbereich erstmalig in signifikanter Zahl überhaupt vor die staatlichen Gerichte kommen.
Außerdem bieten sich hochspezialisierten Anbietern von Full-Service-Hybriden durch die enorme Datenmenge exklusive Möglichkeiten einer Datenauswertung im Sinne des Big Data Ansatzes, woraus sich wiederum für die Mandanten besondere Vorteile ergeben können.
Weiterer pro Punkt: Im Unterschied zu den von der EU favorisierten Schlichtungsverfahren erzielen Legal-Tech-Unternehmen in der Regel nicht Kompromisse, sondern setzen Rechte vollständig durch. Der Zugang zum Recht hat sich durch Legal Tech binnen weniger Jahre ganz erheblich verbessert.
Medienkompetenz, hallo
Jetzt haben wir nur noch das Problem der Ungleichheit unter Bürger*innen. Schließlich gibt es Bürger*innen, die moderne, technologiebasierte Online-Angebote wahrnehmen; und einen anderen Teil der Bevölkerung, der aus infrastrukturellen Gründen oder mangels technischer Kompetenzen nicht dazu in der Lage ist, solche Angebote zu bedienen. Das könnte zu einem Legal Tech Gap führen.
Außerdem gibt es Bereiche des Rechts, in denen Softwarelösungen in der Regel nicht profitabel umgesetzt werden können, zum Beispiel auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Die Folge: Machtunterschiede, die traditionell vom Staat abgefedert werden sollten.
So schreibt auch Christina Leeb: „Zur Herstellung der prozessualen Waffengleichheit könnte der Staat auch Lösungen entwickeln oder entwickeln lassen und unternehmerische Lösungen finanziell oder organisatorisch fördern.“
Fair enough.
Ein begrüßenswertes, erstes Beispiel in diesem Zusammenhang bildet etwa das Tool zur kostenlosen Überprüfung von Inkassoforderungen durch die Verbraucherzentralen. „InkassoCheck“ ist seit Februar 2018 online abrufbar.
Auch vorstellbar: Ein Online-Portal mit verständlichen Hinweisen für Verbraucher*innen, die als Art Suchmaschine für einzelne Lebenssachverhalte dient. Der Vorteil wäre, dass der Legal Tech Gap geschlossen werden könnte, weil die Bevölkerung – zum Beispiel durch Kampagnen – auf die Existenz hingewiesen wird. Letztlich muss die Medienkompetenz der Gesamtbevölkerung zunehmen, um Legal Tech Alternativen als brauchbares Instrument für mehr Zugang zum Recht zu titulieren.
Ich schließe mich der Meinung meiner Vorredner*innen an und bleibe dabei: „Weniger Recht“ ist viel mehr, als „gar kein Recht“.
Es ist empowernd zu sehen, dass es inzwischen moderne Lösungen für Mieter*innen und Verbraucher*innen wie uns gibt, mittels derer wir die unter den Tisch gekehrten Mieterhöhungen und Scam-Attacken seitens Machthabender anfechten können.
Wir bleiben nicht mehr wütend auf den maschinell erstellten Briefen und in Aussicht gestellten Prozesskosten sitzen und trauen uns mithilfe der Legal-Tech-Unternehmen endlich, für unser Recht einzustehen.
Danke, Technologie. Und natürlich ein großes Dankeschön auch an Martin Fries, der seine Vorlesung „Legal Tech“ kostenlos auf YouTube zur Verfügung stellt. Er hat mir auch das Buch von Christina Leeb empfohlen, das 2019 als Dissertation veröffentlicht wurde.
Quellenangaben
Christina Leeb (2019): Digitalisierung, Legal Technology und Innovation. Der maßgebliche Rechtsrahmen für und die Anforderungen an den Rechtsanwalt in der Informationstechnologiegesellschaft, Duncker & Humblot Berlin, Band 19
Martin Fries, Folien zur Vorlesung „Zugang zum Recht“
Martin Fries (2018), Playlist “Legal Tech” Vorlesung auf YouTube
Definition Legal Tech von legal-tech.de
Positionspapier Rechtsstaatlichkeit BRAK
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