Wonach riecht Heimat? Nach Gänseblümchen und Apfelschorle? Oder vielleicht doch nach Mettbrötchen mit Alsterwasser? Für Groschen-Gastautorin Anna riecht Heimat nach einem Ballermannrülpser. Also quasi einer Molotowfahne aus Dosenbier und Tiefkühl-Paella. Oder zumindest riecht so die Antwort, die wissensdurstige Biodeutsche von der Autorin erwarten. “Woher kommst du denn?”, “Ist das weit weg vom Ballermann?” und “Sprichst du Filipinisch?” sind Standardfragen, die das Puzzle “Drittkulturkind” vervollständigen sollen. Und obwohl die Anzahl an Drittukulturkindern weltweit stätig am zunehmen ist, wissen die wenigsten, was damit überhaupt gemeint ist. Zeit für Aufklärung!
Als Drittkulturkind (DKK) werden per Definition Personen bezeichnet, deren Eltern aus jeweils verschiedenen Ländern stammen, selbst jedoch in einem dritten und damit anderen Land aufwuchsen. Sie wachsen förmlich in eine „dritte Kultur“ hinein, die verschieden von jener der Eltern ist, und gleichzeitig stark durch diese geprägt wird. Was auf den ersten Anhieb nach einem modernen Beamteneuphemismus à la Mensch mit sichtbarem Migrationshintergrund oder einem interesseweckendem Wortspiel klingt, aktiviert beim Großteil der Gesellschaft nur ein großes Fragezeichen im Hinterkopf.
Obwohl das Konzept sich vor allem auf die Kindheitsjahre einer Person beziehen, endet die Multikulturalität natürlich nicht mit der Volljährigkeit. Aus Drittkulturkindern werden Drittkulturerwachsene. Meistens folgen darauf einige weitere Wohnorte im Lebenslauf, die entweder berufs- oder persönlich bedingt zu Umzügen führen.
Heimat kann für einen solchen Menschen also zwangsläufig immer nur eine Drittelwahrheit sein.
In meinem Fall steht das erste Drittel für eine philippinische Mutter, das zweite für einen deutschen Vater und das letzte für ein Aufwachsen im 17. Bundesland Deutschlands: Mallorca. Seit Studienbeginn, und weil die Universität der Balearen den Bachelor Internationale Beziehungen nicht anbot, wohne ich nun in Madrid. Ein Auslandssemester in Sydney und zwei in New York kamen noch dazu. Das wiederum macht mein Curriculum Vitae nicht gerade smalltalktauglicher.
Was oder wer ist man also, wenn man auf solch eine eigentlich ja einfache Frage keine Antwort hat? Oder nur eine hat, die nie dafür reicht um der gegenüberstehenden Person genug Auskunft zu geben, weil der eigene Akzent, die Hautfarbe oder Interessen fragwürdig erscheinen. Wenn es zu viele Antworten auf eine Frage gibt, kommt man manchmal an einem Tedtalk for one nicht vorbei.
Wer für die meisten Menschen ein kulturelles Fragezeichen ist, lernt früh, dass andere über die eigene “Exotik” leider mehr nachdenken, als wissen und es manchmal sogar schaffen, beides, – die eigene Ignoranz als auch die subjektiven Einbildungen in ganze Sätze zu packen. “Joa, also, Mallorca, auf Deutsche hätte ich nicht wirklich Bock. Philippinen klingt aber schon sehr interessant. Hab da so ne Arbeitskollegin aus….”
Komisch, dass ich – bei einem geschätzten Anteil von 4 von 3 Deutschen die schon auf Malle waren¬ –, immer noch konstant über den Ballermann ausgefragt werde. Als wäre es eine beruhigende Selbstbestätigung darüber zu lästern was „die anderen“ Deutschen im Mittelmeer so an peinlichen Schabernack treiben.
Fotoquelle: flickr.com CC BY 2.0
Fragenswert ist auch, dass dem Standardspanier außer dem Adjektiv “exotisch” nichts weiter zu der eigenen verflossenen Kolonie, die 1899 für 20 Millionen US Dollar an die Vereinigten Staaten verkauft wurde, einfällt. Ironischerweise leben auch in mir noch koloniale Dynamiken fort, denn dadurch, dass ich eine spanische Schule auf Mallorca besuchte, wurde Tagalog, also umgangssprachlich Filipinisch, durch Katalanisch und Spanisch ersetzt.
Heute beherrsche ich fünf Sprachen – und keine davon ist meine Muttersprache.
Als Drittkulturkind patchworked man sich also ein sehr spezifisch-eklektisches Allgemeinwissen zusammen. Unzählig,e fast schon niedliche Erfahrungen spiegeln genau das wieder: da wir daheim nur Englisch und Deutsch sprachen, und sogar die einzigen empfangbaren TV-Kanäle auf diesen Sprachen liefen, konnte ich in der Schule nie Kinderlieder mitsingen oder verstand „Insider“ Witze aus dem spanischen Fernsehen oftmals nicht.
Banale Ereignisse wie von einer Grundschullehrerin geschimpft zu werden, weil man spanische Schimpfwörter raushaut, deren Bedeutung oder Härtegrad man überhaupt nicht versteht, zeigen, dass weder ich noch meine Lehrerin wussten, was wir taten – geschweige denn mit meiner Multikulturalität umgehen konnten. Der Unterschied zwischen dem Erlernen einer Sprache durch die eigenen Eltern oder durch gleichaltrige Klassenkameraden oder Schulung, ist enorm.
Überall und nirgendwo hinzupassen hat aber auch Vorteile. Man kann bei einem Deutschland-Spanien Finale immer Weltmeister sein.
Man kann auch spontan den Inkognitomodus einstellen und so ziemlich jeden Verkaufsvertreter mit einem Touristenakzent abwimmeln. Niemand, nicht mal du selbst weißt so richtig, wer du bist. Und da wären wir schon beim Thema Identität.
Wer sich heute noch nicht fragt, wer und wieso sie ist, wurde noch nie als Millennial beschimpft. Wenn es schon für den kleinen Max Mustermann aus München schwer ist, herauszufinden, welchen Platz er in dieser Welt einnimmt; oder was ihn, Max, ausmacht, dann stelle man sich das ganze Mal mit multiplen Koordinaten vor.
James Baldwin meinte “I was not born to be what someone said I was. I was not born to be defined by someone else, but by myself, and myself only.” Manchmal geht es nicht einmal darum, was aus dir wird, wenn andere Menschen dich konstant definieren. Wenn andere dich zum Beispiel jahrelang eine Streberin nennen, identifizierst du dich irgendwann damit. Was nun geschieht aber, wenn es nicht eine Aussage, sondern eine Frage ist, die irgendwann deine Identität formt. Denn Fragen sind genauso wie Lügen bei genügender Wiederholung Wahrheiten. Aber welche Wahrheit steckt nun hinter der Frage, “In welcher Sprache träumst, denkst und fickst du?”
Sehr interessant ist auch das Konzept der „kulturellen Obdachlosigkeit“, das oft im Kontext von Drittkulturkindern aufkommt und deren psychologische aber auch soziologische Entwicklung in den Fokus stellt.
Die Soziologen Ruth Hill Useem und John Useem, die den Begriff Third Culture eingeführt haben, betonten auch, dass Drittkulturkinder zwar oftmals Schwierigkeiten haben sich mit nicht-DKK zu verständigen oder umzugehen, sich dafür aber untereinander sehr ähneln. Useem et al. (1963) beschrieben, dass Individuen, die solche Erfahrungen gemacht hatten, eindeutige Standards von interpersönlichem Verhalten, arbeitsbezogenen Regeln, Lebensstil-Kodexe, Perspektiven und Kommunikation teilten. Das kreiere eine neue kulturelle Gruppe, die nicht in die Heimats- oder Gastgeberkultur fällt, dafür aber mit anderen DKK geteilt wird.
Im Grunde genommen sind DKK die von Geburt aus weltbürgerlichen Äquivalente zu heutigen digitalen Nomaden, fast schon Proficouchsurfer oder minderjährige Erasmusstudenten.
Es wird langsam Zeit, dass wir das Analoge aus unserem sozialen Denken ein für alle Male verabschieden. Es gibt für manche keine in fetten Buchstaben auf die Stirn tätowierte Antworten. Die Binarität unserer Realität ist kolonial. Von der selbst-erkorenen Hoheit einer lokalisierbaren Metropolis wird man über die Schulter belächelt und romantisch genannt, wenn man sagt, dass “Zuhause” eigentlich nur bedeutet, dass man dort die Nacht sicher und wohlbefindend verbringt.
Und apropos verbringen. Drittkulturalität heißt auch, dass die physische Verfügbarkeit an Beziehungen nagt.
Wer die eigene Kontaktliste auf dem Handy in vier Vorwahlgruppen kategorisieren kann, muss häufig über Skype weinen.
Einfach mal so mit allen Liebsten den eigenen Geburtstag feiern: “a Draum” – wie wir in Franken zu sagen pflegen.
Wessen Familienbaum sehr viele Wurzeln, aber auch Äste hat, steht politisch auf einer Slackline. Das Verstehen von Intersektionalität war für mich ein unausweichliches Wartezimmer: ich war solange damit beschäftigt meine eigene Identität interkulturell zu verstehen, dass politische Kategorien und Machtstrukturen bis vor Kurzem zweitrangig waren. Will heißen: erst als ich verstand, dass es mehr als selbstverständlich, und vor allem, in Ordnung ist, anders zu sein; war ich emotional bereit, um die nächsten zig Aha-Momente mit Sexismus, Rassismus und alle anderen netten -ismus Worten zu erleben. Vor allem diese aber zu verarbeiten und einzuordnen.
Die Fetischisierung, die ich als Frau mit philippinisch-deutschen Phänotypen seit Beginn der Pubertät erlebe, ist nur eines von vielen Beispielen dessen, wie mein sichtbarer Migrationshintergrund für viele Menschen eine Einladung ist, um nach meiner Herkunft zu fragen. Und dass wir trotz einer stetig wachsender Anzahl von DKK weltweit – der womöglich berühmteste von uns ist Barack Obama –, erst am Anfang der Rassismusdebatte stehen. Denn obwohl Obama als auch ich Resultate unserer globalisierten, migrierender und diversen Welt sind, scheint der Faktor Ethnizität in unserer Drittkulturalität immernoch am auschlaggebendsten zu sein.
Deswegen bin ich davon überzeugt, dass viele Probleme unserer heutigen Zeit aus einer DKK-Perspektive, anstatt von einer rigiden und einbahnverlaufenden Vision entschärft oder zumindest angegangen werden sollten. Als Gesellschaft müssen wir akzeptieren, dass ein Mensch mehr ist als das, was auf ein Identitätsdokument gedruckt wurde. Oder genau das Gegenteil: Dass ein Mensch auch dann existiert, wenn dieses Dasein nicht in veraltete Kategorien eingeordnet werden kann.
Und dass das Wählen zwischen drei Nationalitäten niemals unsere komplexe Realität wiedergeben wird.
Literaturangabe:
Useem, J.; Useem, R. (1967). “The interfaces of a binational third culture: A study of the American community in India”. Journal of Social Issues. 23(1): 130–143
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