„I glaub, i werd no heuer sterm“, sagt meine Oma, als ich sie an diesem heißen Julitag in ihrer Gemeindebauwohnung im 16. Bezirk besuche. Ich hab uns zwei mittelgute Schnitzel und Kartoffelsalat von einem Imbiss auf der Koppstraße mitgebracht, die wir beide hastig, beinahe schweigend nebeneinander sitzend in ihrem Wohnzimmer verzehren. Ich auf dem gepolsterten Sessel, sie in ihrem Rollstuhl. „Des is ka Leben mehr.“

Ich bin 25, meine Oma ist 81. Es ist der erste Sommer meines Lebens, in dem die Last des Älterwerdens meine hitzebejahende Restjugend überlagert. 31 Grad draußen – und trotz sorgfältig verschmierter Sonnencreme und liebgemeinten Mitbringseln ist alles ein bisschen würdelos. Der Erdäpflsalat schmeckt natürlich nicht ansatzweise so gut wie der, den meine Oma früher immer für uns gemacht hat. Von den Schnitzeln brauch ich gar nicht erst anfangen, sie sind bereits lauwarm und lätschert, als ich sie auf den Tisch stelle.

Meine Oma sagt nichts, sie wirkt ein wenig beschämt. Dass sie in einer nicht-behindertengerechten Wohnung im vierten Stock im Rollstuhl sitzt, dass sie ihre rechte Hand kaum noch heben und deshalb nicht mehr selbst kochen kann. Dass ihr Pfleger jeden Morgen den Arsch abwischen. Dass fremde Leute ihre Wäsche nicht so waschen, wie sie das gerne hätte. Dass es aufgrund der Ersatztoilette manchmal im Kabinett stinkt. Dinge, die sie nie zugelassen hätte, bevor ihr die Eigenverantwortung in einem Ruck mit ihrer Mündigkeit abgesprochen wurde. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Meine Oma war einmal eine sehr stolze Frau, eine richtige Wienerin. Man sah sie früher nie ohne Lippenstift und perfekt geföhnter Frisur die Ottakringerstraße entlangstolzieren, Jeans gehörten nicht zum Repertoire. Gekleidet in bodenlanger, leichter Seide, begleitet von dicken Schwaden Parfüm hatte sie stets eine gute Geschichte von früher und ihren zahlreichen Verehrern parat. Noch vor vier Jahren ließ sie sich die Haare färben, auch wenn es keiner außer ihren Verwandten sah.

Inzwischen hat sie die tadellose Optik aufgegeben, die Tür öffnet sie mir in bequemer Baumwollhose und Schlabbershirt. Und wen verwundert es? Wer möchte aufpoliert vor dem Fernseher sitzen, so lange, bis er eines Tages nicht mehr aufwacht? Das Draußen nur durchs Fenster riechen? Ich weiß nicht, was ich noch tun kann, für Oma, außer sie zu besuchen, zu umarmen, wenn es ihr schlecht geht. Ich bin viel zu selten da, ich wohne in Deutschland.

Sie hört schlecht und erzählt mir dieselben Geschichten, immer wieder. Von ihrer Arbeit als Dienstmädchen bei einer reichen Familie. Von ihrem Bruder Kurti, der viel zu früh gestorben ist. Sie ist sichtlich stolz auf mich, die Bildungsaufsteigerin. Sie sagt dann immer „Frau Magister“ und grinst. „Viel lerna hast müssn“, sagt sie beinahe mitleidig, vom passenden Gesichtsausdruck begleitet. Später fragt sie, wie die Arbeit so sei, als Frau Magister. Dass mein Titel kein Beruf ist, versteht sie nicht. Um ihre Bildung hat sich auch nach 1945 niemand gekümmert. Wenn meine Oma von ihrem Leben erzählt, fühlt es sich schwer und lang an. Es ist so weit von meinem entfernt, dass ich den Bezug dazu verloren, nein, niemals wirklich gefunden habe.

Zu sagen, dass man selbst nicht so enden will, ist hart. Als ob man dem Gegenüber Leben absprechen würde. Aber welches Leben denn, wenn die Betroffenen es selbst verneinen? Was, wenn kein Reiz mehr durchdringt, kein Fernsehgeräusch genügt, weil es Echtheit, das Draußen, ein Gefühl nicht ersetzen kann. Weil die tonangebenden Protagonisten ihrer Erfahrung heute entweder tot, oder nicht zu erreichen sind.

Ich kann mir nicht vorstellen, zu enden. Schon gar nicht alleine in einer Gemeindebauwohnung in Wien. Als ob es helfen würde, andere alte Menschen um mich zu haben, wenn es doch alle letztlich einzeln trifft. Kurz bin ich davor, Oma rechtzugeben, sie in ihrem Kummer zu bestärken.

Das 30 Jahre alte Sofa mit Zebramuster und Teddybär. Die Überbleibsel meiner Kindheit. Omas Sohn auf einem Foto in Amerika, gerahmt über der lackierten Holzkommode. Ich kann es mir nicht ansehen. Nein, das ist kein Leben mehr, in dem man nichts anderes tut als auf die Besuche der einen vernachlässigenden Verwandten zu warten und den Körper beim Verfall zu beobachten. Ständig auf die Hilfe anderer angewiesen ist, die man für ihre Dienste bezahlt. Menschen, die auch andere Probleme haben, als das Seelenleben alter Menschen.

Es ist kein schöner Sommer dieses Jahr, zumindest Zuhause nicht als jüngstes Kind des Generationenwechsels. Während meine österreichische Oma in Ottakring im Rollstuhl sitzt, kann sich mein slowakischer Großvater im ersten Moment nicht mehr an mich erinnern. Und meistens auch im zweiten, dritten und fünfundzwanzigsten nicht.

„Haben wir uns bereits kennengelernt, verehrte Dame?“ Er fragt mich, ob ich schon mal da war („eintausend Mal bestimmt“), woher ich ihn kenne („Du bist mein Opa, Opa!“), ob ich gut geschlafen habe („Ja, habe ich.). Manchmal siezt er mich, was auf Slowakisch noch einen Tick seltsamer ist. Meine Babka kümmert sich um ihn, wie eins sich um kleine Kinder kümmert. Später schläft sie auf der Liege vor Erschöpfung ein. Wenn Dedko nicht aufisst, füttert sie ihn, füttere ich ihn, solange ich da bin. Wenn er Widerwillen zeigt, erklärt sie ihm, warum dieses oder jenes genau jetzt notwendig ist. Sie fährt ins Spital mit ihm, wenn etwas ist – mit dem Taxi.

Mein Großvater ist eine Hülle geworden, die zwar so aussieht wie er – mit den dichten Haaren, den dunkelbraunen Augen, der idealtypischen Figur eines attraktiven Mannes in Hosenträgern – aber nur noch repetitive Verhaltensmuster seines Charakters widergibt, ohne seinem Wesen gerecht zu werden. Der Aufbau seiner Witze ist nichtsdestotrotz derselbe geblieben, auch blinzelt er zum Schluss dabei genauso wie früher mit dem linken Auge, der alte Charmeur. Und obgleich ich mich zu einem Lächeln hinreißen kann, tut es schon während ich den Mund aufmache weh. Es steht fest, dass sie vorbei geht, die Zeit. Sie ist zu unser aller größter Feind geworden, wie wir hier sitzen und so tun, als ob nichts weiter wäre, also, abgesehen davon dass Dedko nicht mehr weiß, wo er zur Universität gegangen ist.

Und nie meint oder sagt er etwas böse, er kann nichts und ich kann nichts und alle können nichts dafür, dass er uns diesen gemeinsamen Sommer verdirbt, am Lagerfeuer, mit seiner Krankheit, unübersehbar in der Mitte ausgebreitet wie eine Heuschreckenplage, die uns so unerwartet vor den Kopf stößt, bis er wehtut, vom Nachdenken und beschämten Wegsehen in den falschen Momenten.

Ich kann mich nicht freimachen von dem, was ich sehe. Wie könnte ich auch. Während einem beim gemeinsamen Abendessen das Ende des Seins vor Augen geführt wird, kann ich nicht so tun, als ob es mich nichts anginge, dass mein Opa nicht mehr wiederzuerkennen ist. Seine Vergangenheit vergessen hat, sich nicht an seine Töchter erinnert, oder seine Frau. Als ob ich keine Angst hätte, vor dem was kommt. Und wir wissen alle, was das bedeutet.

Der Tod, er sitzt inzwischen genauso im Gemeindebau wie in der slowakischen Hütte neben uns. Isst immer mit. Schaut zu, wenn mein Großvater die Pillen ausspuckt, die er nicht hinunterkriegt und meine Oma das Hörgerät verweigert. Der Tod beobachtet uns aus einer Ecke und nimmt jedem sonnigen Tag die Unendlichkeit. Den Glanz, der einst für leuchtende Kinderaugen sorgte. Hier, bei den Menschen, die mich neben meinen Eltern großgezogen haben. Mit mir nach Schulschluss in den Prater gegangen sind, und ins Schweizerhaus.

Zukunft ist andersrum. Ich spüre den Druck der familiären Verantwortung und ich habe Angst, dass ich nicht genug da war. Dass ich mehr hätte von den Strapazen der letzten Jahren erzählen sollen, den Jobwechseln, den besten Freunden, die in der Ferne Familie wurden. Von den Momenten, in denen ich verliebt war. Ich hätte öfter Postkarten schreiben oder anrufen können, aber das Dasein passiert auch ohne erinnernde Gesten anderswo für immer.

Kurz bevor ich gehen möchte, um gedankengetrieben zu den Steinhofgründen zu spazieren, sagt meine Oma zum ersten Mal, dass ich bleiben soll – und fängt an zu weinen. Ich bücke mich hinunter, umarme sie.

Weine mit ihr über das, was sie nicht mehr erleben wird und mit mir, weil es vielleicht das letzte Mal war, dass wir uns gesehen haben.

____

Dieser Text ist zuerst in der Story App erschienen. Storyapp ist eine App für Smartphone und Tablett, die literarische Kurztexte vorhält. Die Texte – vom Gedicht zum Pamphlet, von der Kurzgeschichte zum Essay – können am Handy (auf dem Tablett) umsonst gelesen werden. Sie können bewertet, gemerkt, empfohlen (via Facebook u.a.) und zum großen Teil auch angehört werden.

Eine genauere Beschreibung unserer App findet man auf storyapp.de – hier liegen auch gleich die Links, die zum Download für Tablett und Smartphone führen.

+ posts