Als ich noch unbedingt Journalistin werden wollte – oder zumindest etwas anstrebte, wovon ich überzeugt war, dass das eine Journalistin eben so tat – stellte ich mir meinen Alltag als Onlinerin ungefähr so vor: auf Twitter surfen, Idee haben/finden und ausarbeiten, der Chefin vom Dienst senden, einmal Korrekturlesen und ab damit ins Netz. Endlich wird man für seine Mühen und Ideen bezahlt!
Letzteres stimmt auch, das ist vielleicht der größte Luxus an meinem derzeitigen Job als festangestellte Redakteurin. Mit “dem Journalismus” angefangen habe ich übrigens vor fünf Jahren – 2015 war ich dann fix beim Progress Magazin und als Freie für unterschiedliche Medien unterwegs. Erstere Vorstellung (Onlinejournalismus = bezahltes Blogging) hat sich – nun, wie soll ich das am besten beschreiben, ohne wie eine naive 21-Jährige zu klingen – nicht bewahrheitet.
Es gibt Dinge, die zumindest ich gerne gewusst hätte. Und meiner Meinung nach auch jeder angehende Journalist oder interessierter, mündiger Rezipient bei seiner Medienkritik beachten sollte – wenn er denn schon vorhat, auf die werten Journalisten draufzuhauen.
Obwohl man im Publizistik-Studium einiges über die Arbeitsbedingungen im Journalismus und redaktionelle Abläufe lernt, gibt es viel zu selten die Möglichkeit, in den zukünftigen Job hineinzuschnuppern. Zu beachten ist bei diesem Blogeintrag natürlich, dass sich die Jobs innerhalb der Branche unterscheiden (können), ich als Berufseinsteigerin nicht als Expertin fungiere und ich mich bei meinen hier geschilderten Erfahrungen nicht unbedingt auf selbst Erlebtes, sondern auch auf Erfahrungswerte von Freunden und Freundinnen und auf Studienergebnisse stütze. Spannender als den unternehmerischen Mikrokosmos fand ich nämlich schon immer: die Metaebene.
Mythos 1: Journalisten schreiben nur das, was sie wollen
Falsch. Das tägliche Brot besteht nicht aus metatheoretischen Abhandlungen über die Zweigeschlechtlichkeit in Bezug auf Judith Butlers letzten öffentlichen Vortrag. Du magst dort gewesen sein, es mag dir interessant vorkommen – wenn es aber für deine Zielgruppe nicht relevant ist, sparst du dir deine Einordnung besser für einen langweiligen Sonntag mit Laptop im Bett. Der Onlinejournalismus ist schnell und manchmal auch: dirty.
Zeit für Herzensangelegenheiten bleibt in der Regel trotzdem. Auch wenn sie – sobald du beruflich schreibst – nicht mehr so stark im Vordergrund stehen, wie du es vielleicht von der Uni oder deinem privaten Blog gewohnt warst. Damit das Gute an dieser Stelle nicht zu kurz kommt: Das Schöne an der Festanstellung sind zum Beispiel die vielen Korrekturschleifen, die nur dir gewidmet werden, um deinen Text besser zu machen.
Mythos 2: Du alleine kannst entscheiden, was deine Vorgesetzten von dir verlangen können
Im Einzelfall kommt es natürlich darauf an, wie gut du deine Themen verkaufen kannst und wie viel dir an deren Umsetzung liegt. Wenn das Medienunternehmen, für das du arbeitest, auf News spezialisiert ist, du dich in deiner Freizeit aber am liebsten mit japanischer Esskultur beschäftigst, musst du trotzdem damit klarkommen, dass du den ganzen Nachmittag mit Brexit-Nacherzählungen zubringen wirst. Weil es relevant ist (Hallo, Nachrichtenfaktor), aktuell ist – und dein Unternehmen dich nicht dafür bezahlt, deine feuchten Autorinnen-Träume zu verwirklichen. Vor allem nicht dann, wenn du als News-Redakteurin angestellt bist. Zeit für Sushi-Donuts bleibt dir: Wenn die Arbeit, die dir aufgetragen wurde, erledigt ist.
Nochmal als Auffrischung: Der Begriff Nachrichtenfakton bezeichnet Merkmale von Nachrichten über Ereignisse und Themen, die dazu beitragen, dass diese publikationswürdig werden. Je mehr Nachrichtenfaktoren eine Nachricht aufweist, umso größer ist ihr Nachrichtenwert. Medienunternehmen gewichten dabei nach eigenem Ermessen.
Merke: du bist durch deinen Vertrag dazu verpflichtet, dem Unternehmen mit deinen geistigen Kapazitäten zu dienen. Das Unternehmen und seine Ziele kommen IMMER vor deinen. Wenn die Erlöse nicht stimmen, gibt es deinen Job nicht mehr. Also lautet die Devise: zusammen anpacken. Und das Ego hintenanstellen – gilt auch für Headlines, die nicht deinem persönlichen Geschmack entsprechen.
Mythos 3: Für die Finanzen sind die anderen zuständig
Es gibt wenige Berufe, in denen der Output des Einzelnen so stark messbar und sichtbar ist. Das hat Nachteile. Onlinemedien haben unterschiedliche Finanzierungsmodelle. Manche verwenden Pay Walls, die meisten verkaufen Werbung (früher: Banner, Pop-Ups), mittlerweile auch gerne “Native Advertising“, also digitale Werbeanzeigen, die wie journalistische Inhalte wirken.
Um möglichst viele und gut zahlende Werbepartner zu finden, müssen die Zahlen stimmen. Klicks Klicks Klicks – die durch User wie dich und mich, die auf die Artikel klicken, generiert werden. Es gibt noch andere Kennzahlen, nach denen sich der Werbemarktwert eines Onlinemediums ermisst. Zum Beispiel Sitzungen, die Verweildauer auf der Seite, Facebook-Likes, ect.
The sense of rush and shortage of time is becoming an important element of newsroom culture, where to be obsessed by time is a constant element of the news day with no sense of reprieve (García Avilés)
Was bedeutet das für die Journalisten? Artikel, die nicht klicken, werden nach und nach eingestellt – da sie sich nicht rentieren. Journalisten werden seltener zu Events gesendet, weil Auswärtstermine besonders viele Kapazitäten kosten. Ein Artikel mit herausragenden Klicks wird – aus ökonomischer Perspektive – immer einem herausragend recherchiertem bevorzugt werden. Dass das Qualitätsverluste mit sich bringt? Geschenkt. Man sollte bei all der Kritik bedenken, dass ausführliche Long-Reads (die teils gar keine Klicks bringen) durch kürzere Geschichten mitfinanziert werden. Es gilt daher, ein ausgewogenes Verhältnis zu schaffen, damit alle in der Redaktion zufrieden sind.
A decrease in traditional information-gathering routines that contributes to a parallel decrease in face-to-face interaction among journalists (Pablo Boczkowski)
Mythos 4: Journalisten, die nur zwei Artikel pro Woche veröffentlichen, sind superlangsam.
Dieser Mythos hält sich in den Kommentarspalten besonders hartnäckig. „Hast du sonst nichts zu tun? Gib dir doch mehr Mühe!“, steht dann unter dem veröffentlichten Produkt. Dass die meisten Onlinejournalisten (von den Freien ganz abgesehen) noch andere Dinge zu tun haben, wird gerne vergessen, da man als Nutzer nur Einblick in den fertigen Artikel bekommt.
There has been an increase in journalists’ use of technology to learn about the stories competitors and other players are working on. Journalists have access to a greater volume of potentially relevant information (Pablo Boczkowski)
Überraschung: Viele Onlinejournos machen die Hälfte der Arbeitszeit Social Media (Sprich: Community Management, aber auch Monitoring oder Konkurrenzanalysen), kümmern sich um bis zu fünf Freie gleichzeitig, bereiten Interview-Fragen vor (je nach Kandidat und Rechercheaufwand kann das bis zu 3 Stunden in Anspruch nehmen).
Journalists work averaged 45,6 hours per week. For 61% the working hours are varing. (Steve Paulussen)
Ein kleines Rechenbeispiel. Wie viel Zeit denkt ihr, habe ich für das analytische Stück zu Pamela gebraucht? 3 Stunden? Weit daneben.
Es braucht: 1 – 2 Stunden, um sich (nebenbei, Zeit dafür ist eigentlich keine) einen Überblick über den Account zu verschaffen, andere Artikel über sie als Person zu lesen. Eine Stunde für das Vorbereiten der Interviewfragen, inklusive Nachdenken. 20 Minuten Mailverkehr mit der PR-Agentur, sodass das Interview stattfinden kann. 1,5 Stunden Anwesenheit der Interviewten gesamt. Eine Stunde für die Transkription der relevanten Passagen. Drei Stunden habe ich zuhause (Minimum) über den Inhalt und Aufbau des Artikels nachgedacht, bevor ich überhaupt angefangen habe zu schreiben (2 Stunden). Mit einer ausführlichen Korrektur einer Kollegin komme ich gesamt auf: knapp elf Stunden.
The news cycle has changed, leading to a gradual increase of publishing during the day. (Pablo Boczkowski)
Mythos 5: Journalisten sind ohnehin die ganze Zeit online, da können sie auch ruhig mal auf meine klugen Ideen und Einwürfe auf Twitter und per PN eingehen.
Auch das ist – milde gesagt – ziemlich kurz gedacht. Seit ich Vollzeit als Redakteurin arbeite gab es nicht einen Tag, an dem ich viel Zeit hatte. Also, um während der Arbeitszeit auf ellenlange Mails, PNs oder Ähnliches zu antworten. Jedes Mal, wenn ich es tat, fehlte mir hinterher die Zeit für Artikel. Wenn PR-Dienstleister abgewimmelt werden, liegt es nicht daran, dass Journalisten unfreundlich sind. Sondern, so arrogant es auch klingt: Schlichtweg wahnsinnig viel zu tun haben.
Wie man sieht: das Zeitbudget ist sehr knapp bemessen. Es gibt jeden Tag eine oder zwei Konferenzen, Termine und Aktionen, die abgesprochen werden müssen. Artikel, die redigiert gehören – seien es eigene oder fremde. Von dem Prozess der Ideengenerierung mal ganz abgesehen. Wer faulenzen möchte, sucht sich besser einen weniger anspruchsvollen Job.
Mythos 6: Journalisten sind auch nicht mehr die intellektuelle Elite des Landes
Willkommen beim Henne-Ei-Problem. Was war zuerst da: Der Rezipient, der sich nicht für tiefergehende Long-Reads interessiert (und nach bisherigen Erfahrungswerten auch eher nicht dazu bereit ist, dafür zu bezahlen) oder der Journalist, der keine mehr schreibt? Was man als Journalistin produziert, hängt stark von Auftragslage und Medienunternehmen ab.
Wenn ein Medium auf bildlastige Kurzinterviews vor Ort setzt, statt auf analytische Hintergrundreportagen aus Bolivien, wird dir dein Master in Latin American Studies wenig helfen. Du bist nicht dafür vorgesehen, dein Wissen in jedem dritten Absatz unteres Volk zu bringen.
Was nicht heißt, dass ein Studium sinnlos ist – im Gegenteil. Wenn ich heute eines genauso machen würde, dann wäre es ein geisteswissenschaftliches Studium zu absolvieren, da es meiner Meinung nach unfassbar viel zur Selbstreflexion und zum Ausbau der kritischen Denkfähigkeit beiträgt.
Generell sollte man im Hinterkopf behalten, dass Praxis und Theorie oftmals auseinanderklaffen und ökonomische Interessen überwiegen – zumindest dann, wenn es ums Überleben geht. Bedenkt bitte, dass die hier dargestellten Beispiele überspitzt formuliert wurden, um gewisse Problematiken innerhalb des Onlinejournalismus prägnant und knackig darstellen zu können.
Wollte deinen Artikel nicht unkommentiert stehen lassen, weil ich ihn einfach gut finde.
Eine Online Journalistin schilderte mir Mal ihren Alltag. Mir ist schon dabei schwindelig geworden. Chapeau!
Vielen Dank!