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Günther Oswald schreibt im Standard vom 2. Jänner 2015 über Jugendarbeitslosigkeit und die wenig-rosigen Zukunftsperspektiven von Neets (“Not in education, employment or training”). Es gibt viele alteingesessene und mit hübschen Bullet-Points aufzählbare potentielle Gründe, warum Jugendliche vorzeitig die Schule verlassen, ohne über einen Lehrplatz zu verfügen: Überforderung, Demotivation, Sinnsuche. Wie wäre es stattdessen den restriktiven Zugang, die gezielte Selektion und pure Willkür mit in die fortschrittliche Analyse des österreichischen Bildungssystems zu nehmen? Jedes Jahr seien es an die 9000 Jugendliche, schätzt das Sozialministerium. Lehrlingsexperte Günther Zauner kritisiert, dass viele Schüler im neunten Schuljahr an den berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS) „rausgeprüft“ werden. Der Standard Artikel ist ein wenig kurzsichtig. Man könnte Schulen ebenso selektive Praxen unterstellen und ihren Anteil am Dilemma nicht kleinreden.
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Genau an dieser Stelle musste ich kurz innehalten (oder auch: das iPad zuklappen), um nachzudenken – über meine eigene Schulzeit. Ich habe überlegt, ob es der Diskussion zuträglich wäre, meine subjektiven Einzelerfahrungen aufzuschreiben, um die Praxis des „Hinausprüfens“ zu verdeutlichen, wie ich sie an meiner BMHS erlebt habe und wie sie an vielen weiteren BMHS in Österreich Alltag ist. Mein neuntes Schuljahr habe ich an einer Handelsakademie in Wien begonnen. Der Schulkomplex verfügte ebenso über eine Handelsschule. Zu Beginn meiner Oberstufenschulzeit 2005/2006 gab es fünf erste HAK-Klassen, mit je 30 Personen. Maturiert haben drei Klassen mit teilweise gerade einmal 16 SchülerInnen. Zufall? Was ist mit den anderen 70 Schülerinnen und Schülern passiert, waren sie nicht “gut” genug? Klug genug, engagiert, motiviert und strebsam genug für diesen Schultyp? Haben sie schlichtweg keine Lust gehabt, sich in gegebenen institutionellen Gefügen einzufinden?
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Ich erinnere mich an Marijan, Besmir und Aleksandar. Alle drei Jungen hatten im Ausland geborene Eltern, aus Albanien, Serbien und Bosnien. Marijan mochte ich besonders gerne. Es machte mir nichts aus ihm auch noch um 22 Uhr die sinnlosen Hausübungen für das Fach mit dem spannenden Namen „Informations- und Office Management“ zu senden, in dem wir das 10-Finger-System innerhalb eines halben Jahres lernen sollten. Aleksandar war teilweise aggressiv, vorlaut, kam ständig zu spät. Er war einer der witzigsten Pubertierenden, die ich in diesem Jahr kennen gelernt hatte. An einem Tag Mitte Jänner kam er mit unserer Klassenlehrerin in den Raum und verkündete, er würde ab Februar nicht mehr mit uns in einem Raum sitzen, er würde die Schule wechseln. Wechseln müssen? Seine Augen waren geschwollen. In seinem Zwischenzeugnis hatte er mehrere Nicht-genügend, soweit ich weiß in Deutsch, Englisch und einem naturwissenschaftlichen Fach. Marijan und Besmir strengten sich im Sommersemester besonders an, ich sendete beiden immer wieder Hausübungen, wenn sie mich per SMS danach fragten. In der Pause standen wir zusammen, hin und wieder sah man sich am Wochenende.

Jahre später treffe ich Marijan zufällig im nahegelegenen Einkaufszentrum. Er fragt mich, wie es läuft, ich erzähle von meinem Leben, Plänen, dem Studium. Marijan freut sich für mich, er sagt, er habe es immer gewusst, du und Thomas, ihr werdet es „weit bringen“, das überrasche ihn kein bisschen. Marijan wollte immer Fußballprofi werden, spielte zum damaligen Zeitpunkt in einer Amateur-Liga. Ich weiß nicht mehr, ob er eine Lehre begonnen hatte oder sich von Job zu Job handelte. Die Schule besuchte er jedenfalls nicht mehr. Ich weiß nicht, ob Marijan die Matura nachgeholt hat oder wie es ihm heute geht, der Kontakt ist irgendwann ebenso abgerissen wie zu Besmir oder Alekasandar. Alle drei haben nach dem ersten Jahr die Schule verlassen. Bis zum Schluss haben Marijan und Besmir durchgehalten, alles Mögliche versucht, die LehrerInnen in der Pause darum gebeten, doch noch eine Prüfung machen zu können, immer hörten sie ein „Nein“ oder ein „Die Prüfung müsste dann aber auf ein Sehr Gut enden“, sonst „könne man nichts mehr weiter machen“. Ich erinnere mich auch an Petra, Vanessa und Carina, die mit ähnlichen Situationen konfrontiert waren. Einmal fragte unser Klassenvorstand Petra, ob sie „zur Schule oder auf den Strich“ gehen würde, so wie sie aussieht. Ich werde den Satz nie vergessen, auch wenn er bereits zehn Jahre her ist und unser pädagogisch absolut inkompetenter, die SchülerInnen als Abschaum betrachtender Klassenvorstand diesen bestimmt schon neben all ihren anderen zwischenmenschlichen Fehlleistungen vergessen hat. Natürlich kam es selten zu besagten Prüfungen und wenn, bestanden die KandidatInnen höchstens mit einem Befriedigend, das die sonstigen negativen Beurteilungen des Jahres auch nicht aufheben konnte.

Für die Statistik: 5 Jahre später, 2010, sind inklusive mir vier Personen mit Migrationshintergrund (zumindest ein Elternteil im Ausland geboren) zur Matura angetreten. Spätestens in der dritten Klasse sind alle Problemkinder ausgesiebt worden, rausgeprüft, durchgefallen. Manche haben später die Abendschule absolviert. Dass man Schüler und Schülerinnen wie Marijan, Petra, Carina, Besmir und Aleksandar nicht in „unserer“ Klasse haben wollte, wussten alle von Beginn an. Außer die Betroffenen. Ihre Bildungslaufbahn war nicht erst nach der ersten Fünf in Deutsch ins Stocken geraten. Die Fünfer konnten sie nie ausbessern, die nicht gebrachten Hausübungen erledigten den Rest. Wie die Elternabende verliefen, weiß ich nicht.

Natürlich wurden nicht nur SchülerInnen mit Migrationshintergrund schlichtweg „rausgeprüft“ und „links liegen gelassen“, wenn das Tempo zu schnell war. Ich erzähle hier von den Menschen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Die Struktur, welche dafür sorgt, „Problempersonen“ gar nicht erst in weiterführenden Schulen ankommen zu lassen, muss – unabhängig von der Herkunft der Lernenden – erkannt werden. Diejenigen aus dem Gymnasium waren es gewohnt, „Leistungen“ (ja, im Sinne des ÖVP-Sprechs) zu erbringen, pünktlich zu erscheinen, für Schularbeiten zumindest drei Tage vorher zu lernen, auch wenn es sieben in einem Semester waren. Lange vor der BMHS war ihre Bildungslaufbahn prädestiniert worden. Montessori Schule, Gymnasium, berufsbildende höhere Schule, danach Arbeit suchen oder studieren. Die SchülerInnen aus dem Gymnasium waren keinesfalls „begabter“. Sie waren höchstens besser gefordert worden. Sie waren mit Hilfe von Eltern und Klassenvorständen auf die weiterführenden Schulen und die damit verbundenen (problematischen) Regeln vorbereitet worden. Sie wurden dazu angehalten, sich gefälligst anzupassen, um später problemlos von einem System ins nächste überzugehen. Frei nach der Doktrin: Du bist nur etwas wert, wenn du ein “Sehr gut” nach Hause bringst. Du bist dann intelligent, wenn du alle Flüsse in Europa auf einer Karte einzeichnen kannst, wenn du den Unterschied zwischen Mitose und Meiose erklären kannst und dir Vokabellisten anfertigst, die du vor dem zu Bett gehen stur auswendig lernst.

Ich kann Günther Zauner zum Abschluss nur sagen, dass es meinen Erfahrungen nach stimmt, dass zu viele Schüler und Schülerinnen im neunten Schuljahr an den berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS) „rausgeprüft“ werden. Und ja, das ist ein Problem.

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