Kathrin Weßling hat in ihrem Debütroman ein Thema aufgegriffen, an das sich bereits viele Autoren und Autorinnen mit mehr oder minder großem Erfolg herangewagt haben: Depressionen. „Nicht schon wieder!“ könnte manch eine/r an dieser Stelle entgegnen, ist es doch ein Thema, das auch journalistisch nicht zu knapp aufbereitet wird. Wohl nicht immer nur unter dem wohlwollenden Aspekt der Aufklärung. Modebegriff Burnout, schicke Scheinphobien, nett gemeinte Ratschläge, die einem „raus aus der Einsamkeit“ in ein „glücklicheres Leben“ verhelfen sollen, zieren diverse Titelseiten und ziehen das Krankheitsbild oftmals ins Lächerliche.
Ich möchte glücklich sein. So eine Scheiße. Jeder will doch glücklich sein. (Weßling 2012: 221)
Wie soll es aussehen, das glückliche Leben? Eine Frage, die sich die Hauptprotagonistin Ida Schaumann auch abseits der Therapiesitzungen stellt. Die Authentizität, mit der Kathrin Weßling die unterschiedlichen Phasen einer Depression und die damit einhergehenden Stimmungen beschreibt, ist unvergleichbar. Damit hebt sie sich von vielen AutorInnen ab, die das Thema gerne mit Samthandschuhen anfassen, statt sich ohne Scham und Reue der punktierten Niederschrift eigener Erfahrungen zu widmen. Ein mutiges Vorhaben, das auf 318 Seiten in die zugespitzte, fiktiv adaptierte Geschichte der Ida Schaumann verwoben wurde. Während der Lektüre gab es nicht einen Moment, an dem ich das Buch freiwillig bei Seite legen wollte. Die geschilderten Erfahrungen werden trotz oder gerade wegen der einfachen Sprache derart ergreifend auf den Punkt gebracht, dass es schwer war, in dieser Rezension nicht sämtliche relevante Textstellen für sich sprechen zu lassen. Der Roman beginnt mit einem Monolog über den Moment der Veränderung, indem Ida klar wird, dass die Krankheit erneut Überhand gewonnen hat.
Du bewegst dich langsam, aber du bewegst dich, und dass sich das nicht ändert, beruhigt dich. Du putzt dir die Zähne, und du duscht deinen müden Körper, und du bekommst manchmal Kopfschmerzen, aber alles bewegt sich, alles geht doch weiter (..). Unmerklich wirst du Woche für Woche ein bisschen mehr zu Zement, ein bisschen mehr zu Beton (…) Aber du gehst weiter, denn das Gehen fühlt sich gut an, im Gehen fühlst du dich sicher, im Gehen hörst du deinen Atmen und grüßt auch manchmal irgendwen, denn du kennst ja Menschen, du hast ja Freunde, du hast ja wen. Manchmal merkst du, dass etwas passiert ist, dass dir etwas zugestoßen ist, dass etwas wehtut, dass sich etwas verschoben hat, dass du nicht mehr so bist, wie du vorher mal warst – aber weil du nie aufgeschrieben hast, wer das jetzt noch mal genau gewesen sein soll, kann dir keiner beweisen, dass das stimmt. Also stimmt es vielleicht auch einfach nicht.
Und eines Morgens stehst du dann vor dem Spiegel und siehst dich an und siehst das fahle Grau in deinen roten Augen, und du bleibst vor dem Spiegel stehen (…) und bewegst dich keinen Zentimeter mehr weiter.
Und damit fängt es an (Weßling 2012: 10)
Obwohl sich der gesamte Plot in mehreren Stichworten erklären lässt – Ida versagt, Ida verzweifelt, Ida fährt in die psychiatrische Klink, wird therapiert, lernt, verzweifelt erneut, erkennt, argumentiert, hadert mit der Vergangenheit, mit der verstorbenen besten Freundin, dem auf allen Ebenen durchschnittlich wirkenden Elternhaus – lebt das Werk Weßlings vor allem durch die ausführlich und detailreich geschilderten Momente des eigenen sozialen Rückzugs. Von den Erinnerungen, die in den ungünstigsten Augenblicken wieder ins Gehirn schießen, und alle positiven, antrainierten – wie Ida es nennt – Vorsätze vernichten. Diese hat bereits mehrere Therapien hinter sich und ist nicht müde zu betonen, dass sie nicht viel von den immergleichen Fragen und Antworten ihrer ÄrztInnen hält. Und doch ist es für sie die letzte Station, die letzte Möglichkeit, die letzte Chance ihrem 24 Jahre altem Leben von Neuem zu begegnen.
Du nimmst jeden Ratschlag, jede Meinung, jeden Tipp, all diese Worte nimmst du mit nach Hause, und du probierst sie alle aus.
Du gehst mal wieder raus.
Du machst mal wieder Sport.
Du isst keinen Weizen mehr, keinen Zucker, keine Milchprodukte, kein Fleisch, keine künstlichen Zusatzstoffe.
Du trinkst keinen Alkohol, keinen Kaffee und nur noch Wasser aus Vulkansteinquellen.
Du machst Yoga.
Du liest Bücher.
Du redest darüber.
Du fährst in den Urlaub.
Du hast mal wieder Sex.
Du gehst spazieren.
Du streichelst Tiere.
Du meditierst.
Du bist nett.
(Weßling 2012: 14)
Das besondere, nicht künstlich überstrapazierte Wortspiel, was in diesen Zeilen bereits durchklingt, hält sich von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist die selten gelesene Offenheit und der unverblümte Zugang zu den eigenen, als seltsam befundenen Gefühlen, die Weßlings Schreibstil charakterisieren. Wer schon einmal mit Angststörungen, Panikattacken und/oder Depressionen konfrontiert war, wird sich an einigen Stellen erkennen und der Autorin gedanklich nahe sein. Wer Bedenken hat, durch die Rezeption abermals in dunkeln Gedanken zu versinken, muss entwarnt werden. Weßling schafft es innerhalb der Erzählung so etwas wie Vertrautheit und geschwisterliche Geborgenheit zwischen der Hauptprotagonistin und den LeserInnen zu schaffen.
Manchmal erinnere ich mich daran, dass ich studiert habe, dass ich Dinge versucht habe, dass ich geküsst und gearbeitet, getrunken und eingekauft habe, dass ich es tatsächlich all die Jahre geschafft habe, ein Mensch zu sein, der existiert und lebt und atmet und funktioniert. Diese Erinnerungen sind Erinnerungen an eine fremde Ida, an eine, die ich nicht mehr sein kann und nicht mehr bin und vielleicht gar nicht gewesen bin, denn so oft glauben wir uns ja alles Mögliche und Unmögliche, wenn wir nur weit genug zurückblicken und das alles hübsch färben mit dem Wissen, das wir heute haben. (Weßling 2012: 200)
Dieses Buch versucht nicht unter allen Umständen etwas zu sein, das es nicht ist. Drüber leben ist weder Sachbuch noch Anleitung zu einem „guten Leben”. Es ist viel mehr Dokumentation und feinstrukturierte Analyse eines literarisch personalisierten Leidensweges, der immer weniger Menschen fremd erscheint. Umso wichtiger ist es über Möglichkeiten aufzuklären, die Betroffenen aus der Krise helfen können – nicht zwingend müssen – und das Problem bei seinem Namen zu nennen. Es wird weder beschönigt, noch gepredigt. Nicht überdramatisiert oder kleingeredet. Besonders berührt haben mich die Zustandsbeschreibungen, die sich auf zurückliegende Lebensphasen beziehen. An Zeiten, in denen man nicht krank war – oder es zumindest noch nicht wusste. „Manchmal erinnere ich mich an dieses Leben.”
Autorin: Kathrin Weßling
Titel: “Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein”
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442312841
ISBN-13: 978-3442312849
© Ralph Krüger 2012